Zwei Spiele, ein Tor: Englands Offensive hat bei der EM bisher nicht überzeugt. Dortmunds Jadon Sancho kam dabei noch gar nicht zum Zuge. Muss Trainer Gareth Southgate den 21-Jährigen im letzten Gruppenspiel gegen Tschechien (21 Uhr/Liveticker) spielen lassen? Das Pro und Contra.
Pro: Sancho würde England locker machen
Von Stanislav Schupp
"Ich verstehe das wirklich nicht. Im ersten Spiel saß er nicht mal auf der Bank, im zweiten kam er nicht aufs Feld. Du hast so ein großes Talent da rumsitzen", sagte Rio Ferdinand nach dem torlosen Unentschieden der Engländer gegen Schottland bei Five. Damit sprach der frühere englische Nationalspieler das aus, was bei vielen Experten und Fans auf Unverständnis stößt.
Trotz einer herausragenden Bilanz von 36 Scorerpunkten (16 Tore, 20 Assists) in 38 Pflichtspielen für den BVB in der abgelaufenen Saison kam Sancho in den bisherigen zwei EM-Gruppenspielen überhaupt nicht zum Einsatz.
Dabei hätte die Elf von Nationaltrainer Gareth Southgate die Qualitäten des 21-Jährigen durchaus gebrauchen können. Sowohl gegen Kroatien als auch gegen die Schotten enttäuschte die Offensive der Three Lions um Top-Torjäger Harry Kane auf ganzer Linie. Zu statisch und berechenbar präsentierten sich Southgates Mannen, zu harmlos waren die Angriffsbemühungen.
Der offensiven Dreierreihe hinter Kane um Raheem Sterling, Mason Mount und Phil Foden fehlte es an Kreativität, Tempo und vor allem Mut in den Aktionen. Sanchos Dribblings, enorme Schnelligkeit und vor allem seine Ideenfindung in Ballbesitz hätte das "steife" (Ferdinand) englische Spiel auf ein ganz anderes Niveau gehoben.
Sancho: Findet Southgate die Bundesliga nicht stark genug?
Auch wenn man dem Außenbahnspieler im Dortmunder Dress das ein oder andere Mal (zu viel) Verspieltheit vorgeworfen hat: Sancho sucht stets das Eins-gegen-eins, zieht mehrere Abwehrspieler auf sich und würde Kane, der in beiden Begegnungen in der Luft hing, somit Räume bieten und ihn besser in Szene setzen.
Doch Southgate legte statt Risiko mehr Wert auf Balance. Vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen Tschechien ist England nicht unter Zugzwang, der Achtelfinaleinzug bereits perfekt, selbst wenn man die Gruppe nur als Dritter abschließen würde. Doch spätestens ab der K.o.-Phase warten qualitativ hochwertigere Gegner auf Southgates Team, die einerseits selbst das Spiel machen und andererseits viele Räume für Kontersituationen bieten werden. Anstatt sich "zurückzuziehen und darauf zu warten, besiegt zu werden", wie es Ferdinand formulierte, wären vor allem in diesen Duellen Sanchos Stärken gefragt.
Mit Sterling, Foden und Mount vertraute Southgate bisher einem Premier-League-Trio. Zumindest Mount muss er gegen Tschechien ersetzen, der Champions-League-Sieger musste wie Ben Chilwell von der Mannschaft isoliert werden, weil sie Kontakt zu dem coronapositiven Schotten Billy Gilmour hatten.
Warum Sancho trotz seiner Form unter dem Radar fliegt, darauf lässt eine Aussage Southgates aus dem vergangenen Jahr schließen. "Das Niveau ist nicht ganz das gleiche", betonte der 50-Jährige seinerzeit bei The Football Show, angesprochen auf einen möglichen Wechsel Sanchos aus der Bundesliga in die englische Eliteliga: "Die Spiele englischer Top-Teams gegen deutsche Top-Teams in der Champions League waren eine gute Herausforderung, die Tiefe und die finanziellen Voraussetzungen sind allerdings nicht zu vergleichen."
Die Bundesliga also als Nachteil für Sancho? Das wäre sicherlich fahrlässig. Genauso wie bei offensichtlichem Handlungsbedarf freiwillig auf seine Qualitäten zu verzichten.
Contra: Bellingham braucht eher einen Stammplatz als Sancho
Von Filippo Cataldo
Völlig klar, wer als EM-Mitfavorit mit diesen Offensivspielern im Kader nach zwei Spieltagen wie England bei einem Törchen steht, der muss dringend was tun.
Trainer Gareth Southgate muss seinen Spielern neue Pläne fürs Aufbauspiel an die Hand geben, der zweite Dortmunder Jude Bellingham könnte dem Spiel der Three Lions durch seine Pässe zwischen die Linien enorm helfen. Die Außenverteidiger müssen zudem offensiver stehen und konsequenter pressen. Harry Kane im Sturmzentrum braucht mehr Anspiele von den Flügeln. Der Trainer sollte seinen exzellenten Außenstürmern außerdem endlich erlauben, öfter das Eins-gegen-eins zu suchen.
Jadon Sancho muss Southgate aber im letzten Gruppenspiel gegen Tschechien nicht bringen, zumindest nicht von Beginn an.
Nicht, weil Sancho zu schlecht wäre für die Three Lions. Auch nicht, weil Sancho mit dem Kopf womöglich woanders sein könnte angesichts der Wechselsaga zwischen dem BVB und ManUnited (nach allem, was man liest und hört, streben alle Seiten nach einer freundschaftlichen und baldigen Einigung). Und vor allem nicht, weil Sancho nur in der Bundesliga spielt und seine Rivalen in der Premier League; diese Theorie für Sanchos Nicht-Berücksichtigung in den ersten zwei Spielen kann getrost in die Rubrik Verschwörungserzählung eingeordnet werden.
Southgate sollte Jadon Sancho gegen Tschechien zu seinem EM-Debüt kommen lassen. Von Anfang an bringen muss er ihn aber nicht. Zuletzt saßen nämlich sogar noch wertvollere Spieler für diese Mannschaft und Southgates Ideen als Sancho auf der Bank der Engländer.
Sancho: Grealish und Rashford noch besser
Sancho ist mehr als ein außergewöhnlicher Spieler, er hat für den BVB eine herausragende Rückrunde gespielt, er ist immer wieder für ein paar Zaubertricks gut, seine Scorerquote ist mehr als beeindruckend. Aber ähnliche Argumente könnten auch Manchester United Marcus Rashford und Aston Villas Jack Grealish für sich beanspruchen.
Rashford ist mindestens so schnell wie Sancho, spielt aber deutlich lieber auch gegen den Ball als Sancho und kann seine Gegenspieler alleine an die Wand pressen. Und Grealish dribbelt den Ball vielleicht eine Spur langsamer als der Dortmunder, doch es gibt kaum einen Dribbler, der so eine Präsenz und Dominanz im letzten Spieldrittel ausstrahlt wie er. Wenn Sancho traurig ist über seine bisherige Nicht-Berücksichtigung, was sollen dann erst Rashford und Grealish sagen über ihre bisherigen Nebenrollen?
Southgate hat für die offensiven Positionen in seiner Mannschaft wirklich die Qual der Wahl.
Schließlich sind auch die Qualitäten von Southgates bisherigen Stamm-Flügelsspielern Phil Foden und Raheem Sterling über alle Zweifel erhaben. Sie spielen gemeinsam bei Manchester City, kennen sich dementsprechend aus dem Effeff - und Kane könnte kommende Saison ja auch noch zu den Citizens stoßen. Dass vor allem Sterling bei der EM trotz seines Tors bisher der Musik hinterherläuft, könnte auch an Southgates taktischen Vorgaben liegen.
Southgate muss seine Offensivspieler vor allem endlich von der Leine lassen. Sonst ist es relativ egal, wer von den Hochveranlagten spielt oder nicht.