Der Wahnsinn hat Methode

Von Adrian Franke
14. Mai 201513:55
Chip Kelly hat seinen Kader für die neue Saison ordentlich aufgerüstetgetty
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Sam Bradford, DeMarco Murray, Ryan Mathews. Coach Chip Kelly hat, nachdem er von den Eignern die volle Kontrolle bekam, nicht lange gewartet und die Offense der Philadelphia Eagles generalüberholt. Und auf den ersten Blick für Chaos gesorgt. Doch die tiefere Analyse lässt in dem vermeintlichen Wahnsinn viel Methode erkennen. Klar ist aber auch: Für Kellys System und Philosophie steht nun eine entscheidende Saison bevor.

Schon bei seinem Einzug in die NFL hatte Chip Kelly bei vielen Experten seinen Ruf weg. Der Mann, der mit Oregon von 53 Spielen 46 gewonnen und insgesamt 40 Mal die 40-Punkte-Marke geknackt hatte, kam 2013 mit den Vorschusslorbeeren eines Offensiv-Genies nach Philadelphia. Und tatsächlich: Scheinbar wie auf Knopfdruck wurden die Eagles eine der produktivsten Offenses der NFL.

Kelly machte aus Nick Foles, dessen QB-Rating von 79 auf 119,2 schnellte, den effizientesten Quarterback der Liga. Nicht wenige sprachen von einer QB-unabhängigen Offense, die allein dank ihres genialen Schemes funktionierte. Doch das reichte dem 51-Jährigen nicht: Der große Wurf sollte her. So sicherte sich Kelly, der vor seinen beiden ersten Spielzeiten in Philly jeweils vergleichsweise wenig geändert hatte (nennenswert wäre vor allem die Entlassung von Receiver DeSean Jackson), die Kontrolle über die Kaderplanung.

Indem er Team-Eigentümer Jeffrey Lurie Anfang des Jahres mit einem ausgearbeiteten Schlachtplan überzeugte, war Ex-Geschäftsführer Howie Roseman schnell außen vor. Kelly dagegen konnte die nächsten Schritte angehen. Und so nahm eine scheinbar unglaubliche Free Agency ihren Lauf.

Die offensive Generalüberholung

Sobald er die Kontrolle hatte, begann Kelly, das Team nach seinen Vorstellungen umzukrempeln. Running Back LeSean McCoy, der unter Kelly bis dahin 2.926 Yards sowie 14 Touchdowns erlaufen hatte, wurde im Tausch für den jungen Linebacker Kiko Alonso nach Buffalo abgegeben. Auch Routiniers wie Trent Cole oder Todd Herremans mussten gehen, vor allem aber die offensiven Skill-Player waren nicht mehr gefragt.

So trennten sich die Eagles nach Jackson zum zweiten Mal in Folge von ihrem Top-Receiver: Free Agent Jeremy Maclin ging, zugegebenermaßen für viel Geld, zu den Kansas City Chiefs. Mit einem spektakulären QB-Deal tauschte Philly dann Foles gegen den verletzungsanfälligen Sam Bradford aus St. Louis, was die Eagles auch noch mehrere Draft-Picks kostete. SPOX

Was will Chip Kelly eigentlich?

Prompt kamen Vergleiche zu Jimmy Johnsons frühen Alleinherrscher-Tagen bei den Dallas Cowboys oder Bill Belichicks Anfängen bei den New England Patriots auf. Auch Pete Carroll krempelte den Kader in Seattle anfangs heftigst um. Der Erfolg gab ihnen allen Recht, doch viele fragten sich: Was will Chip Kelly eigentlich?

Dass sowohl sein Bild in der Öffentlichkeit, als auch die Meinung von Außenstehenden ihn herzlich wenig interessieren, ist spätestens jetzt klar. Kelly selbst brachte es Ende März auf den Punkt: "Ich denke, es bringt uns nichts, irgendwem zu sagen, was unsere Vision ist." Daran besteht wohl kein Zweifel. Dennoch ist es an der Zeit, den Motiven des Masterminds nachzuspüren.

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Seite 3: Die turbulente Free Agency II: Der QB-Hammer

Seite 4: Fazit

Keine Sekunde verschwendet

Der McCoy-Abgang wurde zunächst damit begründet, dass Kelly weniger Geld in die offensiven Skill-Positionen stecken und stattdessen auf sein System vertrauen will. Doch die Theorie war schnell vom Tisch: Philly verpflichtete Ryan Mathews (fünf Millionen Dollar garantiert) und Vorjahres-Top-Rusher DeMarco Murray (21 Millionen garantiert) und steckt in sein Backfield damit mehr Geld als in der Vorsaison.

Doch was ist der Plan? Was hat Kelly mit seinem Running Game vor?

Zunächst einmal - ein offenes Geheimnis - ist für ihn Geschwindigkeit das A und O . Kelly forderte bei den Oregon Ducks 80 Plays pro Spiel von seinem Team (über 20 mehr als der Durchschnitt), und schon damals war das Running Game die Basis.

Das ist ein Grund dafür, warum Kelly meist an einer Formation festhält und etwa die beiden Outside Receiver ungewöhnlich oft ihre Seite halten. So ist der Gameplan klar, zeitintensive Positionswechsel im Laufe eines Drives fallen weg. Kelly verwendet meist 11- (ein Running Back, ein Tight End) oder 12-Personnel-Groups (ein RB, zwei TE), doch da die Eagles aus der gleichen Aufstellung extrem viele Spielzüge ausführen können, verrät das Personal auf dem Platz dem Gegner kaum etwas.

Der Inside Zone Run

Was das Scheme angeht, beinhaltet ein großer Teil der Offense ein Zone-Running-Scheme - und das in seiner absoluten Basisform mit dem Inside Zone Run. In Perfektion ausgeführt - Kelly legt höchsten Wert auf permanente Wiederholung im Training - schafft es der Center schnell hinter die Line of Scrimmage und beschäftigt den Middle Linebacker, der eigentlich gegen den Run vorgesehen ist. Der Right Guard trifft seinerseits meist auf den gegnerischen Nose Tackle. Der Running Back sollte dadurch, je nachdem wie sich die Blocks entwickeln, mindestens eine relativ freie Lane vor sich haben.

Dass Kelly das Zone-Scheme bevorzugt, ist nur logisch: Seine auf Tempo ausgelegte Offense soll unter anderem dazu führen, dass der Gegner noch nicht geordnet ist. Dadurch kann es aber auch passieren, dass ein O-Line-Man in einem System mit "Manndeckung" keinen Gegenspieler hat, weil dieser schlicht noch nicht an seinem Platz ist. Dem wird in einem Zone-Blocking-Scheme ein Riegel vorgeschoben.

Umstellung für Murray

Für Murray wird das nach Dallas' Power-Running-Scheme zwar eine Umstellung sein, doch seinen direkten, geradlinigen Laufstil sollte er sich unbedingt beibehalten - deshalb hat Kelly McCoy schließlich durch ihn ersetzt. McCoys eher abwartender Stil gefiel dem Coach dagegen überhaupt nicht, passte er schließlich nur bedingt in sein Scheme. Es gab heftige Auseinandersetzungen an der Seitenlinie, weil McCoy nicht schnell genug in die für ihn gerissenen Lücken stieß. Murray kann jetzt die Rolle einnehmen, die Kelly in Oregon einst unter anderem für den heutigen Patriot LeGarrette Blount vorgesehen hatte.

Das Running Game ist in Kellys Offense das Rückgrat, doch für dessen Erfolg wird neben dem Back auch die O-Line entscheidend sein. 2013 hatten die Eagles hier, auch bedingt durch mehrere Verletzungen, große Probleme. Was die "Adjusted Line Yards" angeht, die Gegner und Spielsituation in den Rushing-Erfolg mit einberechnet, waren die Eagles das viertschwächste Team der NFL. Und: Nur Detroit, Cleveland und Tampa Bay hatten prozentual mehr Runs, die an oder hinter der Line of Scrimmage gestoppt wurden.

Andererseits entsprach die Line aber auch schon im vergangenen Jahr eher den Qualitäten von Murray und Mathews: Was "Power Success" (81 Prozent, bester Wert) angeht, also Runs bei Third oder Fourth Down, die maximal zwei Yards bis zum First Down oder Touchdown erreichen mussten, war Philly das beste Team der Liga.

Der Outside Zone Run

Außerdem, und hier kommt Kellys nächste Lieblingswaffe im Running Game ins Spiel, blockten nur wenige Teams besser im Bereich zwischen fünf und zehn Yards nach der Line of Scrimmage (sogenannte "Second Level Yards"). In diese Lücken muss ein Back schnell vorstoßen können - Murrays Spezialität - oder aber sie anders ausnutzen. Wie beim Outside Zone Run.

Das Ziel hierbei ist, dass zwei Spieler aus der Interior Line direkt nach dem Snap zwei Linebacker oder Safeties beschäftigen, während die Tackles, ein Guard oder der Center, sowie der Tight End die D-Line blocken. Dadurch bekommt der Back genügend Raum, um über die Edge zu attackieren.

Mit den Verpflichtungen von Murray und Mathews hat Kelly dafür gesorgt, dass sein Wunschsystem ideal umgesetzt werden sollte. Sofern die Voraussetzungen durch die O-Line stimmen.

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Auch bei seinem QB-Tausch widerlegte Kelly die Theorie, wonach er möglichst wenig Geld in die Offensive stecken will. Der Wechsel von Foles, der vor seinem Schlüsselbeinbruch insgesamt effektiv spielte, zu Bradford kostet die Eagles 2015 rund 11,6 Millionen mehr, darüber hinaus hat der einstige Nummer-1-Pick mehrere Kreuzbandrisse hinter sich. "Ohne die Verletzungen wäre er nie auf dem Markt gewesen", erklärte Kelly lapidar.

Warum also der Trade? Bei genauerer Betrachtung wird klar: Sonderlich überrascht sollte man nicht sein. Bradford spielte auf dem College, übrigens gemeinsam mit Murray, eine Tempo-Offense mit ebenfalls bis zu 80 Plays pro Partie. Einerseits im Spread-Style mit vielen Receivern, gleichzeitig aber mit teils komplizierten Routes sowie gelegentlichen QB-Runs. Darüber hinaus wird Bradford in Philly mit Offensive Coordinator Pat Shurmur wiedervereint - unter dem er 2010 bereits Offensive Rookie des Jahres wurde.

Bradford und Kelly: Match made in heaven?

Plötzlich macht die Entscheidung schon deutlich mehr Sinn - und es geht noch weiter: Das Play-Action-lastige Passspiel der Eagles ist Bradford wie auf den Leib geschneidert. Unter Kelly nutzt Philadelphia Play Action in fast jedem dritten Pass Play, der Ligadurchschnitt seit 2012 liegt bei 21 Prozent. Auch die Ergebnisse können sich sehen lassen: Das Passer-Rating der Eagles-QBs (+25,8 Punkte) steigt nach dem Fake stärker an als im Liga-Schnitt (+10,5 Punkte).

Auf Bradford passt das perfekt: Das Passer-Rating des Ex-Rams-QBs steigt bei Play Action von 81,7 auf 106,5 - also fast um 25 Punkte. Darüber hinaus gehörte der 27-Jährige 2011 (48,8 Prozent) und 2012 (41,7 Prozent) auch zu den zielsichereren Quarterbacks, wenn es um Pässe von mindestens 20 Yards ging. Zugegeben, 2013 ließ er in dieser Statistik nach. Aber sein neuer Coach, der die Big Plays im Passspiel fordert, baut darauf, diese Fähigkeiten wieder zum Vorschein bringen zu können.

Davon abgesehen geht es in Kellys Offense neben Geschwindigkeit vor allem um eines - nämlich um Antworten.

Ein perfektes Beispiel hierfür ist der Double Slant, ein typischer Spielzug aus Kellys schnellem Kurzpassspiel. Der Double Slant funktioniert sowohl gegen die Cover 2 mit zwei tiefen Safeties, als auch in der Manndeckung. Gegen Manndeckung liest der Quarterback die beiden Slants (im Schaubild links), und auch gegen den Blitz funktioniert meist die Slant-Seite mit einem schnellen Wurf. Gegen die Cover-2-Zonendeckung sind andererseits die kurzen Würfe "underneath", also in die Zone vor den Defensive Backs, häufig komplett frei.

Kellys Pass-Offense setzt alles daran, das Spiel für den Quarterback so einfach wie möglich zu machen. Oft geht es darum, durch das Scheme schon beim ersten Read einen freien Mann zu finden.

Marcus Mariota im Porträt: The Flyin' Hawaiian

Die vielen kurzen Pässe, darunter auch Bubble Screens, passen ebenfalls zu Bradford. Seit dessen Rookie-Saison verzeichneten nur sechs von 151 QBs über eine komplette Saison weniger als durchschnittlich drei Yards vor dem Catch. Bradford hatte gleich zwei solcher Spielzeiten: 2010 fingen seine Receiver den Pigskin 2,66 Yards hinter der Line of Scrimmage, 2013 waren es 2,86 Yards. Im gleichen Jahr kamen zudem 55 Prozent seiner Gesamt-Passing-Yards nach dem Catch - einer der ligaweit niedrigsten Werte.

Zusammengefasst: Bradford braucht Receiver, die aus seinen kurzen Pässen den nötigen Raumgewinn herausholen. Und Kellys System schafft genau diese Räume.

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Fazit

Als Kelly in der vergangenen Saison gefragt wurde, welche Offense er denn eigentlich plant, antwortete er bewusst nichtssagend: "Wir spielen die 'Was-funktioniert'-Offense. Wir spielen das, womit wir Punkte erzielen." Damit sagte er zu einem gewissen Grad wahrscheinlich sogar die Wahrheit, denn Kellys Offensiv-Philosophie weist Teile des Erhardt-Perkins Systems auf.

Dieses System basiert darauf, dass die Spielzüge auf verschiedene Spieler-Zusammensetzungen auf dem Platz angepasst werden können. Keiner der Skill-Player ist fest einer bestimmten Route oder einer bestimmten Aufgabe zugeordnet. Vielmehr geht es darum, dass in der Theorie jeder Spieler jede Rolle ausfüllen kann. Von den Spielern fordert das deutlich mehr Arbeit, da jeder jede Route und jede Zuteilung kennen muss. Vorteile sind im Erfolgsfall verkürztes Play-Calling und eine unglaubliche Flexibilität - der Gegner kann aus der Aufstellung auf dem Feld fast keine Schlüsse mehr ziehen.

Einen Beweis antreten

Kelly will beweisen, dass seine Philosophie und sein Ansatz in der NFL weiter Siege einbringen können - auch wenn der Motor der Tempo-Offense gegen Ende der Vorsaison zunehmend stotterte. Vor allem Bradford und Murray könnten dafür die fehlenden Puzzlestücke und letztlich Upgrades zu ihren Vorgängern sein - wenn sie denn fit bleiben: Genau wie Mathews hat auch Murray eine nicht gerade kleine Krankenakte. SPOX

Gleichzeitig hat Kelly nur wenige Wochen nach dem Bradford-Trade einmal mehr erkennen lassen, dass kein Spieler bei ihm sicher ist. Als mit Oregons Marcus Mariota der perfekte Quarterback für sein System im Draft zu haben war, versuchte er den Mega-Trade. "Wir haben das untersucht. Aber ich denke, wir sind nicht einmal in die Nähe des geforderten Preises gekommen", gab er anschließend zu. Jetzt wird er zeigen müssen, dass sein System mit dem so lange verletzten Bradford ebenso gut funktioniert wie mit einem Mariota am Ruder.

Red Zone zum Draft: "Komische Kiste von Kelly"

"Wir haben ein 4-12-Team übernommen und in den letzten beiden Jahren 20 Spiele gewonnen", betonte Kelly nach dem Draft, in dem er mit Receiver Nelson Agholor schließlich nur einen Offensivspieler holte, trotzig. Gleichzeitig weiß er aber auch, dass das angesichts seines Radikal-Umbruchs nicht mehr reichen wird: "Wir haben noch kein Playoff-Spiel gewonnen, das wissen wir. Wir müssen uns steigern. Wenn ich etwas versprechen kann, dann, dass wir nicht einfach abwarten. Wir warten nicht auf den Draft 2017. Wir wollen in dieser Saison alles geben."

Es ist für Kellys Philosophie eine kritische Saison: Er muss, nachdem er die Offense komplett nach seinen Wünschen umkrempeln durfte, nachweisen, dass er das Team wirklich verstärkt hat. Denn "anders", und das ist sicher keine innovative Erkenntnis, heißt nicht zwangsläufig "besser".

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