Rekordnationalspieler Lothar Matthäus spricht mit den Kollegen von "Spielverlagerung.de" über seine Arbeitsweise als Trainer und die Zusammenarbeit mit seinen früheren Coaches und deren Führungsstil. Außerdem erklärt er taktische Veränderungen von heute im Vergleich zu seiner aktiven Zeit.
Frage: Herr Matthäus, wie verfolgen Sie aktuell den Fußball?
Matthäus: Ich verfolge eigentlich alle Ligen in Europa, auch in Ländern, denen in Deutschland nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich habe viel im osteuropäischen Ausland gearbeitet, auch in Israel, und ich weiß nach wie vor, welche Mannschaften dort ganz oben stehen. Hauptsächlich schaue ich aber natürlich die deutsche Bundesliga. Das ist ein Muss, genauso wie internationale Spiele.
Frage: Wie viele Spiele schauen Sie grob in der Woche, wie viele davon im Stadion?
Matthäus: Wenn es in meinen Plan passt, schaue ich mir so viele Live-Spiele wie möglich an. Ich würde sagen, monatlich zwischen 4 und 8 Spielen im Stadion. Aber ich schaue auch viel Fernsehen - was die Zeit hergibt, schaut man Fußball. Frauen schauen Mode und wir Männer schauen eben Fußball.
Frage Ist das eine Möglichkeit, sich über fußballerische Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten?
Matthäus: Es gibt nicht immer etwas Neues zu entdecken, aber manche Spielszene prägt sich ein. Du fragst dich beispielsweise, warum macht der Trainer das, warum stehen die beim Freistoß so tief oder warum lassen sie sich so tief fallen? Da fallen viele Dinge auf, bei denen man sagt: "Mensch, das ist eine gute Idee!" oder "Da kannst du was verbessern!". Das musst du gespeichert haben bzw. du schreibst es auf und versuchst dann, es in deine Arbeit einfließen zu lassen.
Frage: Ein guter Übergang zu Ihrer Trainerkarriere. In Deutschland ist in diesem Bereich relativ wenig bekannt über Sie. Für welche Philosophie steht der Trainer Lothar Matthäus?
Matthäus: Ich möchte immer erfolgreichen, attraktiven Fußball spielen. Ich glaube, das ist eine Standardantwort, die jeder Trainer bringt. Nur: Wir Trainer sind von dem zur Verfügung stehenden Material abhängig. Der FC Barcelona kommt meiner Idee natürlich am nächsten, aber das würden 99 Prozent der anderen Trainer auch sagen. Das ist ja eigentlich das, was wir sehen wollen: erfolgreichen, attraktiven Fußball. Aber es geht nicht immer, weil der FC Barcelona nur einen Trainer haben kann. Wenn ich beispielsweise wie in Bulgarien mit schlecht ausgebildeten Spielern arbeite, muss ich eben ein bisschen von meiner Grundphilosophie abgehen und die Möglichkeiten, die ich habe, bestmöglich ausnutzen.
Frage: Das heißt?
Matthäus: In Bulgarien haben wir schon versucht, offensiv zu attackieren gegen Mannschaften, bei denen wir gemeint haben, dass das möglich ist. Aber wenn du gegen eine übermächtige Mannschaft spielst, musst du davon abgehen. Wir kämpfen auch nicht mit einer Pistole gegen einen Panzer. In solchen Spielen sind dann das schnelle Umschalten von Defensive auf Offensive, das Kompaktstehen und das Schaffen vieler Anspielmöglichkeiten wichtiger. Grundsätzlich möchte ich immer, dass die Spieler in Bewegung sind, dass die Spieler Freude haben, dass Leidenschaft dabei ist, dass man auch nach einem verlorenen Ball nicht stehen bleibt, dass man sich wieder hinter dem Ball versucht zu formieren, dass man nicht diskutiert. Das sind Dinge, die man im Fußball immer beachten muss.
Frage: Unterschiedliche Trainer setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Sehen Sie sich vor allem als Motivator, als Ausbilder der Spieler, als taktischer Vermittler? Wo ordnen Sie sich ein?
Matthäus: Erst einmal ist wichtig, in welchem Job du arbeitest, als Nationaltrainer oder als Klubtrainer? Du hast als Klubtrainer natürlich viel mehr Einflussmöglichkeiten. Als Nationaltrainer hast du deine Spieler zwei, drei Tage. Es sind einige Spieler angeschlagen, bei einem Freundschaftsspiel kommen die Spieler erst 48 Stunden vor Anpfiff, was sollst du da machen? Hier ist man vor allem als Psychologe gefragt. Die zwei, drei Trainingseinheiten musst du versuchen zu nutzen, um die Spieler zu motivieren, bei Laune zu halten, auf sie einzugehen. Im taktischen Bereich kannst du Standardsituationen üben. Als Klubtrainer hast du natürlich ganz andere Möglichkeiten, du bist ganz anders organisiert und kannst mit dem gesamten Team oder in Gruppen mit den einzelnen Mannschaftsteilen gezielt arbeiten.
Frage: Nationalmannschaften haben Sie nun näher erläutert. Wenn Sie bei Klubmannschaften länger etwas entwickeln können, zwingen sie ihrem Gegner ihr System auf? Haben Sie eher eine feste Formation oder stellen Sie sich stark auf den Gegner ein?
Matthäus: Ich möchte Dominanz erzeugen auf dem Platz. Meine Mannschaft soll das Spiel bestimmen. Das ist natürlich nicht immer möglich. Man muss sich auch auf die Stärken und auf die Schwächen des Gegners einstellen. Dafür studiert man ihn auf Video und schickt seine Leute dorthin, um herauszufinden, welche Taktik die andere Mannschaft spielt und ob sie zum Beispiel zu Hause so spielen wie auswärts. Man muss sich informieren und dann muss man versuchen, den Gegner mit den Möglichkeiten, die man hat, so zu bearbeiten bzw. sein Spiel so durchzuziehen, dass es gelingt.
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Frage: Bedeutet Dominanz gleichzeitig auch viel Ballbesitz?
Matthäus: Absolut. Viel Ballbesitz heißt aber nicht, dass ich dominant bin. Denken Sie an die van Gaal Zeit zurück: Die Bayern hatten 60-70 Prozent Ballbesitz gehabt und haben dann meistens in der eigenen Hälfte gespielt. Das ist eigentlich nicht das, was wir sehen wollen. Der Gegner kann sich dann wieder formieren. Daher ist es wichtig, dass du intelligente Spieler hast, die die Situation erkennen: Wann ist die Möglichkeit da, intelligent umzuschalten? Und wann müssen wir in Ballbesitz bleiben? Das ist etwas, was die Spieler vom Grundsatz her mitbringen müssen. Als Trainer kannst du darauf ein bisschen in der tagtäglichen Arbeit eingehen, damit die Spieler wissen: Jetzt halten wir den Ball und locken den Gegner raus, oder jetzt ist die Lücke im richtigen Moment frei zum schnellen Umschalten. Aber das auf dem Platz zu erkennen, liegt im Endeffekt an der Intelligenz des Spielers.
Frage: Kann ich diese Intelligenz des Spielers fördern als Trainer, oder ist das etwas, was ein Spieler mitbringen muss?
Matthäus: Ich glaube, dass man in den Trainingsspielen schon Einfluss nehmen kann. Diese sind ja nicht nur dafür da, die Spieler spielen zu lassen, sondern dass man auch mal anhält und erläutert, was möglich gewesen wäre, damit sie es beim nächsten Mal besser machen. Es ist für mich wichtig, das klar anzusprechen, so dass der Spieler es auch versteht. Du kannst also schon Einfluss nehmen, aber wenn der Spieler es mitbringt, ist es für mich als Trainer schon einfacher.
Frage: Sie arbeiten dementsprechend besonders gerne mit Spielern zusammen, die über ihre Spielintelligenz kommen und setzen dann vielleicht eher weniger Schwerpunkt auf zum Beispiel physische Attribute?
Matthäus: Jede Position braucht einen unterschiedlichen Typ. Ich habe mich beispielsweise mal mit Arsene Wenger unterhalten. Er hat sein System und auf jeder Position weiß er genau, was für einen Spielertypen er haben will. Natürlich kann sich ein Verein wie Arsenal auch erlauben, genau nach diesem Spielertypen zu suchen. Wenn dagegen die Trainer häufig gewechselt werden, kommt es meist auch zum Wechsel der Spielphilosophie. Ich persönlich brauche auch kräftige Spieler in dementsprechenden Positionen, in der Innenverteidigung zum Beispiel. Ich brauche schnelle, dribbelstarke Spieler auf den Außenpositionen. Du kannst aber nicht sagen "Hey, es geht nur mit diesen Spielertypen!". Du formst dir deine Mannschaft, und dazu gehören natürlich teilweise auch mal größere Spieler. Auch für Standardsituationen brauchst du ja einige Spieler, die eine gewisse Größe mitbringen. Otto Rehhagel ist damit 2004 Europameister geworden, weil er 6-7 Spieler hatte, die mindestens 1,88 Meter groß waren. Wir wissen, Halbfinale, Finale, zwei Eckbälle, das war die Taktik von Otto 2004, als er mit robusten Spielern den Titel gewonnen hat.
Frage: Sie haben Arsene Wenger und Otto Rehhagel genannt. Welche Trainer aus Ihrer langen Laufbahn haben Sie am meisten geprägt?
Matthäus: Es wäre jetzt nicht fair zu sagen, der Trainer sei besser gewesen als der andere. Jeder hatte seine Qualitäten und seine Schwächen. Heynckes zum Beispiel hat bereits in den 80ern sehr viel mit dem Ball gearbeitet. Heutzutage mache ich jede Übung mit dem Ball, auch im Konditionstraining. Nur Laufen, ohne Ball, hat uns keinen Spaß gemacht, das macht den Spielern heute auch keinen Spaß. Du musst da auch als Psychologe deine Spieler bei Laune halten. Dafür hat der Jupp Heynckes in seiner frühen Trainerzeit weniger die Kommunikation mit den Spielern gesucht. Das hat zum Beispiel Ottmar Hitzfeld anders gehalten. Er hat die Mannschaft toll im Griff gehabt. Auch wenn es Härtefalle gab, war nie einer sauer. Er wusste, wie er mit den Spielern umzugehen hatte.
Frage: Lange Zeit haben Sie mit Trapattoni zusammengearbeitet...
Matthäus: Trapattoni war ein Taktikkünstler: "Die Null muss stehen!" Im UEFA-Pokalendspiel 1991 (mit Inter Mailand gegen AS Rom, Anm. d. Red.) war ich der offensivste Spieler. Wir hatten das Heimspiel 2:0 gewonnen, auswärts stand es 1:0 für den Gegner. Er wechselte einen Verteidiger ein und einen Stürmer aus. Ich war der einzige, der vorne stand, das Spiel war komplett defensiv ausgerichtet. Er hat viel Wert auf taktische Disziplin gelegt. Udo Lattek war wieder ein ganz anderer Typ. Motivator, Zuckerbrot und Peitsche. Er ist mit den Spielern abends einen Trinken gegangen und am nächsten Tag hat er ihnen in den Arsch getreten. Aber das gehört auch dazu, dass man Vertrauen aufbaut zu den Spielern, und dazu gehören viele Gespräche. Du musst natürlich wissen, mit welchen Typen du es zu tun hast. Welche Kindheit hatte er? Welche Schulbildung? Wie sieht sein Privatleben aus? Nicht dass ich mich da einmische, aber ich habe zu meinen Spielern häufig gesagt, ihr könnt mit mir über alles sprechen. Ich bin nicht nur euer Trainer, sondern auch euer Freund. Ich habe mehr Erfahrung als ihr, nicht nur auf dem Platz, sondern auch außerhalb. Wenn einer die ganze Nacht nicht geschlafen hat, weil das Kind krank war, dann möchte ich das wissen, damit ich ihn einschätzen kann am nächsten Tag auf dem Platz. Deswegen erwarte ich, dass ein Spieler offen zu mir ist, damit ich auch korrekt mit ihm umgehen kann. Mir ist das offene Verhältnis zwischen meinen Spielern sehr wichtig, denn nur dann kann ich sie korrekt behandeln.
Frage: Kommen wir zum Fußballerischen. Seit Ihrer Spielerzeit hat sich ja viel gewandelt, zum Beispiel die Position des Liberos gibt es nicht mehr.
Matthäus: Naja, heute sehen wir viele Mannschaften, die mit Dreierkette spielen. Wieder zurück zum "Libero", mit Anführungszeichen. Ich habe ja selber diese Position gespielt in einer Dreierkette mit Thomas Linke und Sami Kuffour, aber das war ja kein klassischer Libero, sondern ich war ein defensiver Mittelfeldspieler. Wenn es gebrannt hat, war ich dahinter, und sonst habe ich vor der Vierkette gespielt und die zwei Außenverteidiger haben sich zurückfallen lassen.
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Frage: Was hat sich denn seit Ihrer Spielerzeit taktisch verändert?
Matthäus: Taktisch hat sich natürlich vieles verändert. Heute gibt es ganz andere Möglichkeiten, die Spieler zu trainieren. Ich hatte früher in Gladbach nicht mal einen Fitnessraum. Wir haben alles auf den Platz gemacht. Heutzutage hast du in der Trainingsarbeit einen Fitnessraum und zig Trainer in deinem Trainerstab. Du kannst viel mit dem Computer arbeiten. Du weißt, wie die Muskulatur gebaut ist von jedem Spieler. Wenn die kleinste Faser kaputt ist, wird das registriert. Dass der Fußball schneller geworden ist, dass er athletischer geworden ist, das muss ich alles gar nicht sagen, das wissen wir alles. Natürlich gibt es verschiedene Taktiken. Bevorzugte Taktik im Weltfußball ist das 4-2-3-1 System, weil man dadurch mit den zwei Sechsern kompakt nach innen steht. Ich spiele allerdings nicht gerne mit zwei Sechsern, wobei die Frage ist, wer denn wirklich mit zwei Sechsern spielt. Schweinsteiger ist ja zum Beispiel auch eher Achter als Sechser.
Frage: Wir sprechen deshalb nicht gerne von einer Doppelsechs, sondern von Sechser, Achter, Zehner.
Matthäus: Ja. Es kommt auch immer drauf an, welche Spieler du hast, wie stark deine Mannschaft ist. Ich habe zum Beispiel in Ungarn und auch bei Partizan Belgrad mit einer Dreierkette gespielt, also sehr kompakt, mit einem Sechser und zwei Außenverteidigern. Wenn du eine Dreierkette spielst, können die zwei Außenverteidiger 20 Meter weiter nach vorne schieben. Dann geht ein Sechser nach hinten in die Dreierkette und dadurch können zwei Spieler weiter nach vorne gehen. Praktisch spiele ich so mit einer Dreierkette mit Libero defensiv, aber dafür habe ich wieder die Möglichkeiten, andere Spieler nach vorne zu schieben. Und ob man nun mit einem oder mit drei Stürmern spielt, das sind ja nur Nuancen, die sich dadurch ändern. Beispiel Bayern: Ribery und Robben, sind das offensive Mittelfeldspieler oder Flügelstürmer? Ich würde sagen, das sind Flügelspieler, also 7 und 11. Bayern München spielt für mich mit drei Spitzen, Kroos ist der Zehner, Schweinsteiger der Achter und Gustavo der Sechser. Und dann habe ich meine Viererkette. Also spielt Bayern München im 4-3-3.
Frage:Wobei es bei den Außenstürmern heutzutage seltener der Fall ist, dass sie durchziehen an die Grundlinie, sondern öfter nach innen ziehen. Was halten Sie davon?
Matthäus: Die Frage ist: Was wollen wir? Wollen wir über die Außen kommen und flanken? Das funktioniert, wenn wir einen kopfballstarken Stürmer haben oder Spieler, die nachrücken oder von der Seite reinrücken, wenn die Flanke kommt. Aber der Neuner muss da unterstützt werden. Es kann nicht sein, dass die Flanke kommt und der Neuner spielt gegen vier Abwehrspieler. Dann wirst du keine Tore erzielen. Eine andere Möglichkeit ist, dass man, wie es zum Beispiel Robben macht, nach innen geht, den Ball auf seinen starken Fuß legt und so den Torabschluss sucht. Aber auch hier gibt es Gegenmittel. Inter Mailand hat es zum Beispiel super gemacht beim Champions League Finale gegen Bayern München. Der Robben war in einer Riesenform, aber die Verteidiger wussten: Außen können wir ihn vorbeiziehen lassen, das ist nicht das Problem. Wenn er aber nach innen kommt, ist ein Sechser da, unterstützt den linken Verteidiger und blockiert ihn.
Frage: Woher erklärt sich dann der Trend, dass weniger Flügelspieler an die Grundlinie ziehen?
Matthäus: Das ist eine gute Frage. Früher hat man mit zwei Stürmern ein 4-4-2 System gespielt. Die Außenstürmer hatten bei ihren Flanken dadurch mehr Möglichkeiten. Vorne hattest du schon mal zwei Stürmer drin, dann ist meistens noch ein Mittelfeldspieler nachgerückt bzw. der Außenstürmer von der anderen Seite nach innen gegangen. Dadurch warst du mit drei, vier Spielern im Strafraum. Heute suchst du mit nur einem Stürmer den direkteren Weg zum Torerfolg.
Frage: Was wir als einen Trend im Taktikbereich sehen, gerade bei Barcelona, sind häufige Positionswechsel in der Offensive. Würden Sie das als Trend sehen oder ist das etwas Barcelona-spezifisches?
Matthäus: Ich kann mich an den SC Freiburg erinnern, 15 Jahre ist das her. Das war für Deutschland etwas ganz Neues. Finke hat die vier Offensivspieler durchtauschen lassen. Jeder konnte Spitze spielen und auch die anderen drei Positionen. Die Spieler durften machen, was sie wollten, nur die Positionen mussten besetzt sein. Das ist eine Möglichkeit, dass ich den Gegner ein bisschen verwirre und den Abwehrspieler verunsichere - wenn ich die Spieler habe, die diese Positionen auch spielen können.
Frage: Was noch ein sehr interessanter Fast-Positionswechsel ist, ist die Rolle, die Messi bei Barcelona spielt als zurückfallender Stürmer. Halten Sie das für interessant?
Matthäus: Auf jeden Fall. Ich finde es eine super Möglichkeit, Messi als zurückfallende Spitze, ich würde es mal 9 ½ nennen, einzusetzen. Es gibt zwei Innenverteidiger, die zwei Innenverteidiger haben keine Aufgabe, die anderen beiden Stürmer kommen über die Außen und gehen in die Schnittstelle zwischen Außenverteidiger und Innenverteidiger. Messi kann im Mittelfeld Überzahl schaffen und muss nicht mit dem Rücken zum Abwehrspieler arbeiten, sondern kommt mit dem Ball auf den Abwehrspieler zu, und das macht einem Abwehrspieler riesengroße Probleme.
Er ist ja kein Spielmacher. Maradona hat ihn bei der Weltmeisterschaft falsch eingesetzt, auch gegen Deutschland. Wenn ich weiß, Boateng spielt als linker Verteidiger, dann lass ich doch den Messi gegen Boateng spielen. Damals hat er auch bei Barcelona hauptsächlich auf der rechten Seite gespielt. Das war für mich ein taktischer Fehler von Maradona. Er hat ja sowieso viele Fehler gemacht. Auch wenn er mein Freund ist, aber das darf ich ja sagen.
Ich finde es einen wirklich guten Schachzug, Messi ein bisschen fallen zu lassen. Auch für die anderen beiden Stürmer. Villa ist ja auch kein Flügelstürmer, er kommt immer wieder ins Zentrum rein. Auch bei Valencia war er eigentlich schon eine Nummer 9. Die Verteidiger wissen dann nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn Villa nach innen kommt. Soll der Außenverteidiger mit Villa reinziehen? Das sind Momente, in denen alles funktionieren muss in der Abwehr: Villa übernehmen, Messi rechtzeitig attackieren. Barcelona lässt Überzahlsituationen entstehen. Das sind schon Waffen, die ein Trainer gerne hat.
Frage: Johan Cruyff hat zu Barcelona den interessanten Satz gesagt, er finde gar nicht so sehr die Offensive faszinierend, sondern wie sie den Ball zurückeroberten. Sehen Sie das auch so?
Matthäus: Ja. Das Wichtigste beim Pressing ist ja, dass alle mitmachen. Nach einem verlorenen Ball kurz hinter den Ball, dann gar nicht dem Gegner die Zeit und die Möglichkeit lassen, den Ball zirkulieren zu lassen, sondern gleich wieder attackieren. Dazu sind die Abwehrspieler technisch nicht die geschultesten. Dann kommst du, wenn du es clever und aggressiv machst, zu einer schnellen Ballrückeroberung.
Frage: Was denken Sie, muss man als Trainer machen, damit dieses Gegenpressing so gut funktionieren kann? Auch in der Bundesliga sieht man es öfter, z.B. Dortmund macht das sehr gut. Wie geht man das an?
Matthäus: Eine passende Geschichte: Als ich bei Inter Mailand gespielt habe, hat der AC Milan unter Sacchi Pressing gespielt. Sie haben im 4-4-2 gespielt mit Gullit, van Basten vorne, wobei Gullit ein bisschen um van Basten gespielt hat, Evani und Donadoni auf Außen, mit Ancelotti und Rijkaard zwei Sechser und hinten ihre Viererkette. Im Pressing haben sie erst einmal die Mitte zugemacht. Dann haben sie absichtlich den Außenverteidiger anspielen lassen, Andreas Brehme links und rechts war es Bergomi. Wenn einer von denen angespielt worden ist, haben die Laufwege funktioniert. Der offensive seitliche Mittelfeldspieler ist draufgegangen, alles hat sich verschoben. Nach hinten haben sie alles zugemacht, auch den Weg zum Torwart, also blieb diesen Außenverteidigern, die ja früher technisch schlechter geschult waren, nur der lange Ball.
Frage: Das ist jetzt gerade ein Muster, dass man beispielsweise aktuell bei Borussia Dortmund sieht. Wird dieses Pressing weiterhin ein erfolgreiches Mittel bleiben?
Matthäus: Die erfolgreichen Mannschaften spielen zurzeit einen Fußball mit einem frühen Pressing. Man kann es nicht über 90 Minuten durchhalten. Da sind wir wieder bei spielintelligenten Spielern, die durch die tägliche Arbeit wissen, wann sie attackieren müssen. Andererseits kannst du natürlich sagen, wir lassen uns nach Ballverlust tief fallen, um kompakt zu stehen, wie Mönchengladbach es beispielsweise macht. Sie haben erst 13 Gegentore in der Bundesliga bekommen und spielen mit zwei Viererketten sehr eng zusammen, davor mit Reus und Hanke, die wiederum an der vorderen Viererkette fast schon kleben. So stehen sie sehr kompakt.
Natürlich, Dortmund versucht häufig das offensive Pressing. Das ist situationsbedingt, man kann es nicht 90 Minuten machen. Andererseits musst du wieder ein Gegenmittel haben. Wenn du den Ball verlierst als ballführende Mannschaft in dieser Zone, das ist immer eine Gefahr für mein Tor. Das heißt, wenn ich jetzt genau weiß, dass eine Mannschaft so ein geiles Pressing spielt, bei dem ich wirklich unter Druck gerate, muss ich eben lange Bälle raushauen und versuchen, in der gegnerischen Hälfte den langen Ball oder den zweiten Ball zu erobern. So hat es beispielsweise Trapattoni gegen Milan gemacht. Ich war damals kein Freund davon, weil der Ball immer über meinen Kopf geflogen ist. Ich hatte nachher Nackenschmerzen, weil ich dem Ball nur über mir herschauen konnte. Ich habe mich auch mit Trapattoni nach dem Spiel angelegt, aber heute sehe ich ein, dass es damals die einzige Chance war. Wenn du mit denen mitspielen wolltest, hattest du keine Chance.
Frage: Was uns persönlich zum Schluss beim Thema Pressing interessiert: Sie haben bereits gesagt, Pressing kann man nicht über 90 Minuten durchhalten. Wie strukturiert man stattdessen das Pressing? Setzt man auf Phasen oder wird es flexibel eingesetzt?
Matthäus: Ich kann als Trainer nicht reinschreien, die ersten acht Minuten machen wir Pressing, die nächsten zehn Minuten keins. Das muss situationsbedingt passieren. Wenn die Mannschaft schon in einer offensiven Position ausgerichtet ist, wäre es ja blöd, fünfzig Meter zurückzulaufen und den Gegner spielen zu lassen. Dann kannst du ihn gleich attackieren. Das trainierst du ja auch. Wenn die Abwehr siebzig Meter weiter hinten steht, bringt es nichts. Dann suchst du wieder die Kompaktheit. Das macht Dortmund ja hervorragend: Wenn sie den Ball verlieren, attackieren sie gleich wieder. So hast du wirklich große Chancen, den Ball zurückzuerobern in einer Phase, in der der Gegner eigentlich schon einen Offensivdrang hat. Dann kannst du die offenen Räume nutzen, um erfolgreich zu sein.
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Lothar Matthäus im Steckbrief