Reaktion auf die Moderne

Ben Barthmann
11. September 201411:41
Pep Guardiola, Louis van Gaal und Joachim Löw haben ihre eigene Auffassunggetty
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Die Weltmeisterschaft 2014 verhalf Fünfer -und Dreierkette endlich auch zum medialen Aufsehen. Beide Formen haben sich aus dem ballbesitzorientierten Spiel entwickelt und könnten diesem nun ein Ende bereiten.

Etwa zwei Wochen nach dem Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaft trifft sich in Mannheim die fußballerische Elite des Landes. Der Bund Deutscher Fußball-Lehrer lädt ein zum Internationalen Trainer-Kongress, erste Worte fallen von Frank Wormuth und Volker Finke. Helmut Sandrock, Armin Veh und Thomas Schaaf sind zu Gast.

Das zentrale Thema ist schnell gefunden: Die vergangene WM. Alle vier Jahre spiegeln sich an dieser Stelle die taktischen Trends der internationalen Ligen ab. Die WM 2010 legte den Fokus auf schnelle Ballverarbeitung und Weitergabe, das 4-2-3-1 wurde salonfähig.

In Brasilien wurde der Trend schnell gefunden: Die Dreierkette respektive die Fünferkette ist zurück. Dabei bleibt jedoch unbeachtet, dass es sich hier nicht um eine echte Neuerung handelt, sondern vielmehr um eine logische Konsequenz.

Vom Libero zur Manndeckung

Das Konstrukt aus Libero und zwei Manndeckern ist Geschichte. Zu uneffektiv ist die Einteilung gegen moderne Spielsysteme, ein wenig zu statisch für schnelle Rochaden und anfällig im Übergabe-Vorgang. Der Trend geht zu mehr Risiko, mehr Spielgestaltung aus der ersten Reihe und damit auch hin zu einer raumdeckenden Dreierkette vor einem mitspielenden Torwart.

Während die Niederlande und Costa Rica mit drei zentralen Verteidigern und defensiv ausgerichteten Flügelläufern positiv überraschten, wagte Chile den Balanceakt zwischen voller Offensive und riskanter Dreierkette. Ausgerechnet die Weltmeister rund um Joachim Löw schienen sich dem zu verweigern - auch wenn das nur die halbe Wahrheit ist.

Denn auch der DFB verzichtete nicht auf den Spielaufbau mit drei Mann vor Manuel Neuer. Entscheidend ist hier jedoch der Unterschied: Deutschland setzt mit dem zwischen die Innenverteidiger fallenden Philipp Lahm auf eine situative Dreierkette, während andere Nationen dies standardmäßig tun.

Es gilt zu unterscheiden zwischen der Grundordnung und einem System. Der DFB definiert eine Grundordnung in der Ausbildung als Anordnung der Spieler ohne Bewegung, ein System als Anordnung der Spieler mit Bewegung. Die WM rückte eine Dreier-bzw. Fünferkette als Grundordnung in den Fokus.

Hier liegt der große Unterschied zwischen dem, was inzwischen zum guten Ton im modernen Fußball gehört und dem, was Trainer wie Pep Guardiola, Antonio Conte oder Marcelo Bielsa vorantreiben. "Modern" - das verbindet man gerne damit, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, selbigen nach Verlusten schnell wieder zurückzuerobern und lieber hoch, als tief zu verteidigen.

Abkippende Sechs oder Asymmetrie

Diese Ausrichtung zog bereits vor Jahren erste Änderungen nach sich. Sei es ein Mittelfeldspieler, der zwischen die Innenverteidiger fällt und damit den Außenverteidigern erlaubt, sich weiter in die Offensive einzuschalten, oder eine asymmetrische Ausrichtung im eigenen Ballbesitz. Bei letzterem agiert ein Flügelspieler merklich defensiver, als sein Gegenpart und erzeugt so erneut eine Dreierkette.

Das Ziel bleibt das gleiche: Ein weiterer Mann positioniert sich im Mittelfeld. Denn ballbesitzorientierter Fußball und Gegenpressing lassen sich nur schwer in Gleich- oder sogar Unterzahl spielen. Die Lösung, diese Spielweise auszubremsen, blieb lange offen. Der FC Barcelona dominierte den Weltfußball und gewann zweimal die Champions League.

Chelsea und Inter Mailand versuchten sich an extrem defensiven Systemen, teils mit Sechserketten vor dem eigenen Strafraum, Real Madrid setzte auf schnelles Überspielen des gegnerischen Pressings. Die WM fasste also auf engem Raum das zusammen, was viele zuvor schon probiert hatten und gab ihm den letzten Schliff.

Es ließ sich eine klare Trennlinie ziehen. Auf der einen Seite stehen die Mannschaften, die agieren, die sich für eine Dreierkette entscheiden, die den Ball haben wollen und ihn weit entfernt vom eigenen Strafraum wieder erobern wollen. Auf der anderen Seite stehen die Mannschaften, die reagieren, die sich für eine Fünferkette entscheiden, die auf ihre Chancen warten und dann schnell umschalten.

Seite 1: Dreierkette nicht gleich Dreierkette

Seite 2: Fünf Mann gegen den Ballbesitz

Seite 3: Drei Mann für den Ballbesitz

Seite 4: Die Zukunft - auch für den DFB?

Beides bleibt jedoch eng verknüpft. In einem Spiel verändert sich alle paar Sekunden die Formation der eigenen Mannschaft, die Übergange zwischen Fünfer -und Dreierkette sind fließend. Der FC Bayern München beweist in seinen ersten Spielen der neuen Saison, dass allerdings auch Mannschaften mit bestem Spielermaterial Zeit brauchen, um diese Vorgaben umzusetzen.

Viel Lauf -und ganz besonders viel Denkarbeit erfordert das Verteidigen mit drei Zentralen. Es kann allerdings auch spielentscheidend sein. Die Kausalkette ist schnell gefunden: Ballbesitzorientierte Teams setzen oft auf eine falsche Neun, einen Spieler, der sich aus der Offensivreihe ins Mittelfeld fallen lässt. Dieser Spieler soll Überzahl herstellen und gleichzeitig dem Innenverteidiger die Frage stellen: Verfolgen, oder nicht?

Verfolgt er, wird eine Lücke in seinem Rücken frei, in die ein anderer Offensivspieler stoßen kann. Verfolgt er nicht, kann der Gegner im Mittelfeld ungestört kombinieren, die Secher müssen einen weiteren Mann ins Blickfeld aufnehmen. Die Fünferkette kommt dem bei, entstehen doch bei einem Herausrücken eines Verteidigers merklich kleinere Lücken, die Innenbahn bleibt geschlossen.

Die falsche Neun schlägt zu

Das vielleicht wichtigste Tor der Weltmeisterschaft passt wie die Faust aufs Auge. Thomas Müller lässt sich im Angriff der deutschen Mannschaft zurückfallen. Martin Demichelis verfolgt ihn bis ins Mittelfeld, Andre Schürrle dribbelt die linke Seite hinab. Mario Götze zieht von dieser Seite in die Mitte - und in die Lücke, die Demichelis offengelassen hat.

Das deutsche Tor in der Entstehung: Müller zieht Demichelis raus, Götze rückt rein. Mit Fünferkette wäre der Raum abgedeckt gewesenSPOX

Als die Flanke kommt, ist der Ex-Bayer auf dem Weg, sein Rausrücken zu korrigieren, Ezequiel Garay hat einen Gegenspieler, der eigentlich nicht ihm zugeordnet war. Götze verwandelt.

In einer Fünferkette hätte Demichelis keine allzu große Lücke hinterlassen, auch wenn das Mittelfeld möglicherweise durch eine Reduzierung von drei auf zwei Spieler etwas leichter überspielt worden wäre.

Jedoch deckt die Fünferkette nicht nur die Mitte besser ab, als ihr viergliedriges Pendant, sondern auch die Flügel und Halbräume. Egal ob in einer aufgefüllten Fünferkette, in der ein Mittelfeldspieler die Viererkette an einer Seite ausbaut und den eigentlichen Außenverteidiger zum Halbspieler macht, oder in der standardmäßigen Variante, deckt man die komplette Breite des Spielfelds ab.

Die Schwäche, die das gern eingesetzte 4-4-2 im Mittelfeldpressing aufweist, ist damit mustergültig behoben. Schnelle Spielverlagerungen und Diagonalbälle können einfacher abgefangen werden. Inverse Dribblings über den Flügel, wie sie Arjen Robben oder Lionel Messi gerne einsetzen, können schneller gestoppt werden, weil der Außenverteidiger mehr Unterstützung erhält.

Schwächen im Umschaltmoment

Bei aller defensiven Kompaktheit bleibt jedoch das, was Costa Rica und auch den Niederlanden letztlich zum Verhängnis wurde. Im Umschaltmoment steht die eigene Mannschaft sehr flach, die Präsenz im zweiten Drittel, in das schnell gespielt werden muss, ist gering.

Fünf Mann stehen auf einer Linie, davor finden sich meist nur wenige Anspielstationen. Louis van Gaal ließ seine zentralen Verteidiger deshalb mit langen Bällen eröffnen - eine Vorgehensweise, die nicht allen Teams gut zu Gesicht steht.

Grafik: Die Pässe von Stefan de Vrij und Ron Vlaar gegen Australien (3:2): Die Niederländer versuchen es oft und gerne lang. Robin van Persie kann die Zuspiele behaupten, Arjen Robben mit seiner Schnelligkeit erlaufen oder von seinem Mitspieler abgelegt bekommen. Dennoch finden nicht alle ihr Ziel.

Alternativ wird schnell über die Flügel aufgebaut, wie Chile es versuchte. Die Halbspieler aus der Innenverteidigung konnten weit nach außen aufrücken und dann steil die Linie herunterspielen. Dass Eduardo Vargas und Alexis Sanchez ohnehin keine klassischen Mittelstürmer sind, sondern sich immer wieder auf dem Flügel anboten, verstärkte den vertikalen Aufbau zusätzlich.

Anfällig waren beide Teams jedoch für konsequentes Gegenpressing, das ein Überspielen der Linien erschwerte. Die Viererkette bietet hier mehr Möglichkeiten, entstehen doch durch mehr Anspielstationen im Mittelfeld auch mehr Dreiecke, die den Spielvortrag erleichtern. Volker Finke forderte einst immer drei Anspielstationen für den Ballführenden, bei einer Fünferkette geschieht dies im Moment des Ballwechsels nur selten.

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Anders gestaltet sich dies bei einer Dreierkette. In einem 3-5-2 oder einem 3-4-3 lassen sich die meisten Dreiecke bilden, jeder Spieler hat immer mindestens zwei Anspielstationen. Durch den einen Mann mehr im Mittelfeld herrscht zudem Überzahl im zweiten Drittel, der Spielaufbau kann ruhig und überlegt vorgetragen werden.

Spielt man beispielsweise gegen ein 4-4-2, erlangt man schnell die Überhand über das Spiel. Die beiden Stürmer haben es schwer, gegen drei Spieler und den Torwart einzugreifen. Werden sie überspielt, herrscht im Mittelfeld ein vier gegen vier, bei einer falschen Neun sogar ein fünf gegen vier.

Dies erreicht man jedoch auch mit einer situativen Dreierkette. Agiert man nun allerdings mit spielstarken Innenverteidigern, muss sich kein Mittelfeldspieler mehr nach hinten fallen lassen und kann einerseits Lücken auflaufen, andererseits sich aber auch selbst anbieten und den Wandspieler für einen aufrückenden Mann aus der Defensive geben.

Effektiv gegen Mittelpressing

Dies macht nicht nur eine Mannorientierung im Mittelfeld, wie sie beispielsweise gegen Sergio Busquets oder Thiago gerne eingesetzt wird, schwieriger, als auch ein klares Mittelfeldpressing. Gegen Mannschaften, die gerne mit dem Ball spielen, entscheiden sich viele Trainer dazu, den Gegner nach außen zu locken und dort mit der Seitenauslinie in die Enge zu treiben.

Mit einer standardmäßigen Dreierkette, einem herausrückenden Mittelfeldspieler, dem Flügelspieler und einem Offensivakteur wird diese Pressingfalle aber schnell überspielt. Eröffnet der halbrechte Innenverteidiger das Spiel, entsteht auf dem Flügel eine fünf gegen vier Situation für die ballbesitzende Mannschaft - dabei ist es doch eigentlich das Ziel eines Pressings, selbst Überzahl herzustellen.

Typische Szene im Mittelfeldpressing. Da aber der halblinke Spieler eröffnet, kann die ballbesitzende Mannschaft sogar Überzahl herstellenSpox

Gerade in diesem Punkt spielt die Dreierkette einen weiteren Trumpf aus. Solange die Mannschaft hoch verteidigt, hält sie zahlenmäßig das Gleichgewicht. Nach Ballverlusten stehen viele Spieler bereits in der Nähe des Balles, die Dreierkette steht in der Nähe der Mittellinie. So wird das Spielfeld sehr klein, die Wege in den Zweikampf sind vergleichsweise kurz. Das Gegenpressing kann schnell anlaufen und der Ball wird ebenso schnell zurückerobert.

Ebenso ist ein Angriffspressing möglich. Durch die sieben Spieler, die in der Hälfte des Gegners auftauchen, wird es schwer für diesen, sich spielerisch zu befreien. Ungenaue Bälle sind die Folge, die schnell abgefangen werden, weil die restliche Mannschaft nachrückt. Allerdings: Umso tiefer die eigene Mannschaft steht, umso riskanter wird die Dreierkette - hier ist der fließende Übergang zur Variante mit fünf Spielern auf einer Linie gefordert.

Nicht für jeden gemacht

Denn sonst wird nicht mehr die ganze Breite abgedeckt, zwischen Halbspielern und Seitenaus entstehen große freie Räume, die von schnellen Gegenspielern genutzt werden können. Die Dreierkette muss sich also im Rückwärtsgang verstärken, sonst laufen die drei Verteidiger Gefahr, in 1-gegen-1-Situationen gezwungen zu werden und die Nähe zu ihren Mitspielern zu verlieren.

Dies sowie die hohen Ansprüche im technischen Bereich, machen es für unterlegene Mannschaften schwer, effektiv nur mit drei Verteidigern zu spielen. Diese Grundordnung sieht hohe Ballsicherheit und spielerisch starke Innenverteidiger vor. Ebenso wichtig ist die Frage der Spielfüße. Eine Dreierkette muss praktisch zwangsweise - je nach Vorstellung des Trainers - mit einem Linksfuß auf der linken Halbseite und einem Rechtsfuß auf der rechten Halbseite besetzt sein.

Die Grafik: Toni Kroos' Heatmap gegen Schottland (2:1): Besonders in der zweiten Hälfte hielt sich der Real-Spieler merklich auf der linken Seite auf. Weil Schottland wenig Druck aufbaute, konnte er sich auch des Öfteren in den linken Halbraum fallen lassen und von dort lange Diagonalbälle spielen.

Guardiola setzt beim FC Bayern auf einen flachen Aufbau. Dementsprechend fällt es schwer, einen Rechtsfuß auf der linken Seite zu platzieren. Dieser dreht nach einem Anspiel auf und muss sich erst neu positionieren, um in die Mitte zu spielen.

Anders dagegen Joachim Löw. Gegen Schottland zog dieser Toni Kroos als Rechtsfuß in eine situative Dreierkette auf die halblinke Position. Dieser sollte mit langen Diagonalbällen die Schwachstellen der Schotten bespielen, weil das Zentrum verschlossen war.

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So bleibt die Dreierkette eine taktische Variation, angepasst an das ballbesitzorientierte Spiel der letzten Jahre. Das Beispiel der Niederlande, die sich mit einer sehr defensiven Fünferkette den dritten Platz sicherten, darf nicht vergessen machen, dass mit Argentinien und Deutschland zwei Teams das Finale austrugen, die auf eine situative Dreierkette setzten.

Dies wird sich auch in naher Zukunft nicht ändern. "Das geht mir seit längerer Zeit im Kopf herum. Diese Variante hat durchaus Vorteile", machte Löw nach dem EM-Quali-Sieg über Schottland offen, schob aber gleich nach: "Aber bei unseren Spielern ist das nicht einfach hinzukriegen."

Der Bundestrainer mutmaßt, dass seine Außenbahnspieler ihre Qualitäten in der Offensive einbüßen würden.

"Dadurch würden wir an Qualität verlieren"

Denn weder Andre Schürrle, noch Marco Reus oder Julian Draxler sind Spieler, die sich als Winger - also als laufstarke Flügelspieler wie Dani Alves oder Kwadwo Asamoah - anbieten. "Die Gefahr einer Dreierkette wäre, dass sie zu stark nach hinten gebunden sein könnten. Dadurch würden wir wahrscheinlich an Qualität, Kraft und Dynamik verlieren", schließt Löw.

Die DFB-Elf wird also weiterhin an einer Viererkette festhalten. Anders dagegen der FC Bayern unter Pep Guardiola, der den Weg, mit einer Dreierkette das Spiel zu machen, schon vor Jahren beim FC Barcelona in Grundzügen begann. Allerdings hat der Spanier in München dafür mit David Alaba, Philipp Lahm, Jerome Boateng und Holger Badstuber die perfekten Voraussetzungen und mit Juan Bernat sowie Mehdi Benatia noch einmal entscheidend nachgebessert.

Ob Dreierkette oder nicht bleibt weiterhin Frage des Trainers und ganz besonders eine Frage des Spielermaterials. Denn auch wenn viele bereits die Revolution ausriefen, handelt es sich doch eher um eine langsame Evolution, auf die ebenso wieder eine Reaktion folgen wird. Spätestens bei der WM 2018 wird es neue Erkenntnisse geben, dann wohl, wie man effektiv gegen eine Fünferkette Chancen herausspielt.

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