Der Fehler im System

Stefan RommelChristian Bernhard
09. Februar 201119:37
Fabio Grosso zieht ab und der Ball geht ins Tor: Die Entscheidung im WM-Halbfinale 2006Getty
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Vor gut vier Jahren war Italien noch Weltmeister - jetzt rennen die Azzurri der Weltspitze hinterher. Wie konnte es so weit kommen? Ein Vergleich mit Deutschland und die Erkenntnisse.

Als sich die Wege von Deutschland und Italien an jenem denkwürdigen 4. Juli 2006 zuletzt gekreuzt haben, stand die Squadra Azzurra nur wenige Tage vor dem größten Triumph überhaupt und der Vollendung einer Ära - während Deutschland auf dem Weg in eine neue Zeitrechnung jäh unterbrochen wurde.

Seitdem ist allerdings auf beiden Seiten sehr viel passiert, die Formkurven beider Nationen gingen bis zum Spiel am heutigen Mittwoch in Dortmund (ab 20.30 Uhr im LIVE-TICKER) einen entgegengesetzten Weg.

Jetzt sind es die Italiener, die die Lücke zu den großen Nationen schließen müssen - gerade einmal gut vier Jahre nach dem WM-Titel. Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Und wo liegen die Fehler im System Italia und wo die Vorteile bei den Deutschen? Eine Analyse.

Die grundsätzliche Spielausrichtung

Italien: Cesare Prandelli stand in seiner Zeit als Fiorentina-Coach für ein attraktives Offensivspiel - und will das auch bei den Azzurri umsetzen. "Mein Objektiv für die Zukunft bleibt ein offensives System - ein Spektakel, das sich die Leute voller Enthusiasmus im Stadion anschauen möchten. Wir besitzen ja Spieler wie beispielsweise Antonio Cassano oder Mario Balotelli mit der Qualität dazu", sagt der Nationaltrainer.

Zu Beginn seiner Amtsperiode wollte Prandelli auf offensive Flügelspieler setzen, doch mangels Alternativen hat er sein System umgestellt. "Momentan habe ich keine Flügelspieler zu Verfügung, deshalb baue ich auf ein technisch starkes Mittelfeld. Ich setze auf Spieler, die zwischen den Linien agieren können, so wie Mauri, Diamanti, Cossu oder Giovinco." Die Azzurri setzen also auf das momentane System von Inter Mailand, ein 4-3-1-2.

Langfristig möchte Prandelli noch offensiver agieren: "Momentan ist die Lösung mit einem Spielmacher die beste, in Zukunft möchte ich aber mit drei Spitzen spielen." Zuversichtlich ist er auf jeden Fall: "Das ist bereits meine Mannschaft. Ich spüre, dass der Geist entsteht, mit dem wir unsere technischen Defizite überbrücken können."

Deutschland: Die DFB-Elf hat sich in den letzten Jahren vom klassischen 4-4-2 wegbewegt und fand bei nach EM 2008 seine neue Liebe 4-2-3-1. Verfestigt wurde diese noch offensivere Ausrichtung durch die Installation Mesut Özils als klassischem Regisseur.

Er ist der zentrale Punkt im System. Dazu kommt die grundsätzlich offensivere Aufstellung der Doppel-Sechs, von wo aus entweder Sami Khedira oder Bastian Schweinsteiger mit in die Räume in der Offensive laufen.

Löw hat sein Grundgerüst längst gefunden und bastelt jetzt an Alternativen, die ihm aus der Liga in den Kader gespült werden, wie Mats Hummels oder Mario Götze, die auf entscheidenden Position in der Innenverteidigung beziehungsweise im zentralen offensiven Mittelfeld Druck auf die Etablierten machen.

Deutschland befindet sich quasi in der Feinjustierung, während im Vergleich dazu die Italiener von Grund auf neu gestalten und umbauen müssen - inhaltlich und personell.

Die Trainer

Der personelle Umbruch

Das Team ums Team

Das Standing bei den Fans

Die Zusammenarbeit mit der Liga

Die Trainer

Italien: Seit dem WM-Triumph 2006 hatte Italien drei Nationaltrainer: Roberto Donadoni, Marcello Lippi und eben Prandelli. Der heutige Cagliari-Coach Donadoni hatte die undankbare und fast unmögliche Aufgabe, das Erbe Lippis anzutreten. Ganz warm wurde der Ex-Milan-Star mit dem Ambiente und den Tifosi nie, das EM-Viertelfinalaus 2008 bedeutete dann auch Donadonis Aus.

Einziger kleiner Silberstreif in Donadonis Regentschaft: Seine Azzurri hatten den späteren Sieger Spanien als einzige zumindest defensiv im Griff. Erst im Elfmeterschießen folgte nach dem 0:0 das Aus. Unter Donadoni stiegen unter anderem Chiellini, Aquilani und Quagliarella zu Nationalspielern auf.

Als Donadoni Geschichte war, holte der Verband überraschend WM-Held Lippi zurück. Zu Beginn stellte der Ex-Juve-Coach mit seinem 31. Spiel in Serie ohne Niederlage auf der Azzurri-Bank einen neuen Rekord auf, dann ging es aber rapide abwärts. Der Confederations Cup 2009 in Südafrika war ein Reinfall, diente aber nicht als Weckruf.

So kam es zur Blamage bei der WM 2010. Zum ersten Mal in der Geschichte blieben die Azzurri bei einer WM-Endrunde ohne Sieg - das Projekt Lippi 2 war grandios gescheitert. Lippis Plan, auf einen Großteil des 2006er Teams und deren Erfahrung zu setzen, ging nicht auf. Einem Rauswurf kam er deshalb stilvoll zuvor. "Ich nehme die gesamte Verantwortung auf mich. Vor vier Jahren habe ich die richtige Mischung gefunden, diesmal ist es mir nicht gelungen", so Lippi nach der Pleite gegen die Slowakei.

Cesare Prandelli muss jetzt den nötigen Radikalschnitt vollziehen.

Deutschland: Hier steht eine gewisse Kontinuität in Person von Jogi Löw und demzufolge auch in der grundsätzlichen Ausrichtung. Löw hat 62 Spiele als Bundestrainer auf dem Buckel, dazu noch die Zeit als Jürgen Klinsmanns Co-Trainer. Er forciert den Offensiv- und Jugendstil, ohne dabei aber in den entscheidenden Phasen in einen Jugendwahn zu verfallen.

Da er seit nun mehr als sechs Jahren mit dem Team arbeitet, sind die Arbeitsabläufe klar geregelt, die Vorgaben definiert. Jeder Spieler weiß, was ihn erwartet. Und jeder Spieler weiß auch, dass er bei Problemen auch auf den Bundestrainer zugehen kann.

Löw hat ein besonderes Vertrauensverhältnis geschaffen, das durch den tragischen Selbstmord von Robert Enke noch sensibilisiert wurde.

Die groben Irritationen zu Beginn des vergangenen Jahres, als sich Löw und Teammanager Oliver Bierhoff mit DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger überworfen hatten, sind seit der WM offiziell ausgeräumt. Löws Standing hat sich dadurch sogar noch deutlich verbessert.

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Der personelle Umbruch

Italien: Seit Prandelli im Amt ist, hat er 21 neue Spieler einberufen. Mario Balotelli ist der wichtigste davon und zusammen mit Rückkehrer Antonio Cassano, der unter Lippi keine Berücksichtigung fand, das Konterfei der der neuen Azzurri.

Neben dem ManCity-Stürmer sind Torhüter Emiliano Viviano (Bologna), sowie die zwei Inter-Spieler Andrea Ranocchia und Thiago Motta jene aus den 21 Spielern, die kurz- bzw. mittelfristig die wichtigsten Neuen für Prandelli sein werden. Insgesamt nominierte er stolze 48 Spieler seit August - der Umbruch ist auch zahlenmäßig unverkennbar.

Inters Thiago Motta im Porträt: Der Spätberufene

Langfristig ist Prandelli besonders auf der Suche nach einem Nachfolger von Gianluigi Buffon und passenden Außenverteidigern - hier experimentierte er am meisten. Den Altersschnitt hat er schon mal radikal gesenkt: Buffon und Mauri sind die einzigen Ü-30-Spieler im Kader für das Deutschland-Spiel. "Wir haben nicht nur den Trainer, sondern auch unsere Identität gewechselt. Das wird nicht einfach, aber mit Sicherheit sehr spannend", sagt Buffon.

Deutschland: 44 Neulinge haben unter Löw debütiert, eine monströse Zahl in lediglich gut vier Jahren als Cheftrainer. Mit Sven Bender klopft Nummer 45 bereits an die Tür.

Der kontinuierliche Einbau junger Spieler ist aber eine der tragenden Säulen seines Konzepts.

Beim WM-Halbfinale gegen Spanien waren sieben von 14 eingesetzten Spielern in der Ära Löw geboren.

Nicht selten musste sich Löw heftiger Kritik stellen, wenn er bedeutungslose Testspiele auch wirklich zum Testen heranzog.

Letztlich hat sich die Strategie aber durchaus bewährt, auch wenn natürlich längst nicht alle Neuen den Durchbruch schaffen.

Im Vergleich zum heutigen Gegner verläuft der Umbruch aber schon seit Jahren nebenbei und fast geräuschlos.

Italien dagegen muss wegen der Verfehlungen seit dem WM-Titel jetzt beinahe radikal handeln.

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Die Trainer

Das Team ums Team

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Die Zusammenarbeit mit der Liga

Das Team ums Team

Italien: Prandellis Ankunft auf der Trainerbank war nur ein Teil der italienischen Revolution. Auch die Ikonen Roberto Baggio, Gianni Rivera und Arrigo Sacchi sind seit August im Team Italia und bilden eine Art Task Force. Baggio als Vorsitzender der technischen Kommission, Rivera als Präsident des Jugend- und Schulsektors und Sacchi als Koordinator der Jugend-Nationalteams.

Große Namen, die jetzt das System von ganz unten reformieren sollen. Sacchi ist sich der Schwere der Aufgabe bewusst: "In Italien zählt das Resultat und dann lange nichts. Mit dieser Haltung ist es schwierig, etwas aufzubauen. Unser Land hat noch nie an die Jugend geglaubt, in keinem Bereich. Diese fehlende Kultur müssen wir nun verbessern."

Im Team ums Team ist Konstanz angesagt: Legende Gigi Riva begleitet die Mannschaft nunmehr seit 1990, zuerst als Betreuer und mittlerweile schon jahrelang als Teammanager. Mit Oliver Bierhoffs Job beim DFB kann man Rivas Aufgabe aber nicht vergleichen, der Sarde ist eher die gute Seele der Azzurri. In der Rolle ist er mindestens genauso wichtig wie ein gutes Haushaltsgerät.

"Das erste Paket, das im Hotel oder in der Kabine ausgepackt wird, ist immer das mit der Espressomaschine. Die Espressomaschine reist sogar bei uns im Mannschaftsbus mit. Espresso ist überall. In der Dusche, in der Kabine, auf dem Trainingsplatz. Andere Mannschaften leben im Luxus, wir Italiener sind einfach. Für uns ist die Küche entscheidend. Ein bisschen Parmaschinken und Mozzarella. Was willst du mehr?", erzählte Nello di Martino, Italiens Teambetreuer bei der WM 2006, dem "Tagesspiegel".

Deutschland: Zu Beginn wurden die Maßnahmen von Jürgen Klinsmann noch als "Erfindungen aus der Neuen Welt" belächelt. Fitnesstrainer aus den USA, ein eigener Koch, ein Teampsychologe - das Trainerteam musste sich viel Kritik gefallen lassen.

Ein entscheidender Faktor dabei war und ist aber Oliver Bierhoff. Auch dessen Job als Teammanager ist bis heute durchaus umstritten. Viele sehen in Bierhoff immer noch den Grußonkel, der seine persönlichen Interessen mehr in den Vordergrund stellt als die der Mannschaft oder des DFB.

Allerdings wird dabei immer vergessen, wie wichtig Bierhoff in den kleinen und großen Dingen rund um die Mannschaft ist. Er hält Löw den Rücken so gut es geht frei, wenn es um Termine mit Sponsoren geht, ist mitverantwortlich für Reiseplanungen und im Dialog mit der FIFA, UEFA und den anderen Verbänden und nicht zuletzt auch ein wichtiger Gegenpol innerhalb des DFB und zu Präsident Dr. Zwanziger.

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Italien: Das Gejammer nach der Südafrika-Blamage war riesig. "Alles Schwarz! Das schlechteste italienische Team aller Zeiten ist draußen" verkündete die "Gazzetta dello Sport" am Tag nach dem Aus gegen die Slowakei in Versalien auf ihrer Titelseite. Beinahe 87 Prozent der "Gazzetta"-User teilten diese Meinung, noch nie sei Italien so schlecht gewesen.

Aber: "Der Fußball besitzt ein kurzes Gedächtnis", weiß Prandelli - besonders in Italien. Denn selbst nach der WM 2006 gab es von Seiten der Fans nicht nur uneingeschränkte Begeisterung. "Ich hielt es für absurd, dass dem Weltmeister selten die verdiente Liebe entgegenschlug - leider war oft das Gegenteil der Fall", sagte Prandelli im Interview mit der "Welt am Sonntag". "Deshalb vermittelte ich den Spielern als erstes, dass wir uns dem Publikum nähern müssen und uns nicht in einem Elfenbeinturm einschließen dürfen."

Prandelli musste sich in seinen ersten Monaten wegen der von ihm nominierten Spieler, die nicht in Italien geboren wurden (Amauri, Ledesma und jetzt Thiago Motta) mit viel Polemik herumschlagen, blieb aber standhaft.

"Wir gehen einen neuen Weg. Mit jedem Auftritt der Nationalmannschaft senden wir Signale an die Menschen. Der Fußball muss vereinen und helfen, Hürden zu überwinden. Mein Hauptziel in den ersten Spielen lautete, die Tifosi wieder für die Azzurri zu begeistern. Das ist gelungen."

Deutschland: Die DFB-Auswahl hat in punkto Beliebtheit ein überragendes Jahr hinter sich.

Die Sympathie- und Bekanntheitswerte stiegen nach der WM in exorbitante Höhen. Löw, Schweinsteiger, Lahm, Klose, Podolski und Ballack kennen 100 Prozent der befragten Personen zwischen 14 und 69 Jahren.

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96 Prozent bringen die DFB-Auswahl mit dem Begriff "Teamgeist" in Verbindung. 2002 waren dies nur 50 Prozent, nach dem EM-Desaster 2004 sogar nur 42. Die deutsche Elf steht zudem für gelungene Integration (87 Prozent), Jugendlichkeit (92), Begeisterung (92) und Weltoffenheit (94).

Das alles mögen Marginalien sein, bedeutungslose Zahlen - für Sponsoren aber sind sie der Schlüsselreiz. Sponsoren bringen Geld, das wiederum wird unter anderem investiert in die Jugendausbildung.

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Italien: Prandelli wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass Italiens Fußball mehr für die einheimischen Jugendspieler tun muss. "Der Anteil von eingesetzten Nachwuchsspielern nimmt in den letzten Jahren regelmäßig ab - natürlich leidet darunter die Nationalelf. Und wenn mal Youngster wie der aussichtsvolle Alexander Merkel bei Milan eine Chance erhalten, sind sie oft Ausländer", sagt Prandelli.

"Der springende Punkt ist: Heute schaffen nur acht Prozent der Jugendspieler den Sprung zu den Profis. Vor einigen Jahren lag der Prozentsatz noch bei über 25 Prozent. Ein allarmierender Rückgang. Vielversprechende italienische Youngster sehe ich aktuell nicht. Die Serie A ist reich an Klassespielern, aber arm für meine Bedürfnisse."

Ein Punkt erfreut den Nationalcoach dann aber doch - die Rückkehr von Inter-Spielern in die Squadra Azzurra. "Inter hat mit den Transfers von Ranocchia und Pazzini ein wichtiges Signal ausgesandt. Wenn ein solches Topteam auf unsere Jugend setzt, bedeutet das auch viel für die Nationalmannschaft."

Deutschland: Rückblickend war das EM-Desaster 2000 der große Weckruf für den deutschen Fußball. Der DFB reagierte, zunächst ein wenig aktionistisch, später dann aber zielgerichtet und letztlich erfolgreich.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der DFB-Stützpunkte auf 366 angestiegen. Der DFB beschäftigt rund 1000 Honorartrainer und sichtet 600.000 Spieler im Jahr. Die Basisarbeit liegt also immer noch beim Verband.

Mir der Einführung der Leistungszentren für die Profi-Klubs 2002 hat der DFB den Druck auf die Liga ausgeübt, der letztlich die gute Basisarbeit verfeinert und für die nötigen Talente im Spitzenbereich sorgt.

Zuletzt flossen 66 Millionen Euro aus den Budgets der Bundesliga-Klubs in deren Leistungszentren, Tendenz steigend. Dazu kommen 29 Eliteschulen des Fußballs, die teilweise auch mit Geldern aus der Liga finanziert werden.

Das Resultat ist eine ständig schwindende Ausländerquote in der Bundesliga und ein enormer Anstieg deutscher Talente, die den Sprung in den Profibereich schaffen oder bereits geschafft haben. Derzeit schaffen im Schnitt 25 Talente pro Jahr den Schritt in die Bundesliga.

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