EM

Und immer noch gefräßig

Von SPOX
Spanien bleibt auch weiterhin das Maß aller Dinge
© Getty

"Gracias, gracias, gracias!": Der spanische Alleingang bei großen Turnieren setzt sich fort, ein Ende ist nicht in Sicht. Der EM-Triumph ist ein Signal an das eigene Volk, aber auch an den Rest der Welt: Zu siegen ist für uns normal.

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Für wuchtige Schlagzeilen ist die spanische Sportzeitschrift "Marca" ja bekannt, und auch nach dem erfolgreich verteidigten Titel bemühte sie noch Sonntagnacht eine ganze Reihe Superlative.

Gerettetes Selbstwertgefühl

"Vier Tore für die Ewigkeit" oder "Die Größten der Geschichte" war da zu lesen. Es waren die Wegweiser für den Rest der Fußballwelt, dass die beste Mannschaft vielleicht sogar aller Zeiten hier zu Hause ist.

Für das Selbstverständnis im eigenen Land, von der Wirtschaftskrise und einer stets steigenden Zahl an Arbeitslosen arg gebeutelt, wählte die "Marca" die wohl einzig zulässige Schlagzeile, als sie direkt nach dem Schlusspfiff ihren Spielern im fernen Kiew entgegenrief "Gracias, gracias, gracias!".

Die Spieler erinnerten sich in der Stunde des Triumphs an das, was zu Hause für ein paar Tage vernebelt, deshalb aber noch lange nicht aus der Welt sein wird. "Wir können das nun genießen. Bei der Krise, die unser Land durchstehen muss, können heute alle einmal wieder stolz darauf sein, Spanier zu sein", übermittelte Sergio Ramos seinen Beitrag zum geretteten Selbstwertgefühl der Nation.

Ein Rekord nach dem anderen

Spanien ist erneut und immer noch die beste Mannschaft des Kontinents und seit der 4:0-Demonstration gegen Italien jetzt schon unsterblich. "Das ist der wunderbarste Moment für den spanischen Fußball", rief Iker Casillas, der mit dem 100. Sieg in seinem 137. Länderspiel nebenbei selbst einen neuen Weltrekord ausgestellt hat.

Wie viele am Sonntagabend der Furia Roja zum Opfer gefallen waren, ist kaum noch zu überblicken: Noch nie hat eine Mannschaft drei große Turniere in Folge gewonnen, noch nie ist einem Europameister die Titelverteidigung geglückt. Noch nie wurde ein EM-Finale derart klar gewonnen.

"Heute haben wir ein Rendezvous mit der Geschichte, mit unserem Land. Alle, die das Spiel gesehen haben, können stolz sein auf Spanien", formulierte es Ramos. Dazu sicherte sich in Fernando Torres ein Ergänzungsspieler von der Bank den Titel des Torschützenkönigs, Andres Iniesta wurde zum wertvollsten Spieler des Turniers gewählt, flankiert von seinem Kumpel Xavi.

Del Bosque schlägt zurück

Im Finale von Kiew wurden die Italiener schnell zum Spielball einer Mannschaft, die bis dahin ganz offenbar mit angezogener Handbremse gespielt hatte. In der Gruppenphase stand Spanien gegen Italien noch vor einer Auftaktniederlage, im abschließenden Spiel gegen Kroatien sogar am Rande des Ausscheidens.

Aber wie so oft in den letzten Jahren rettete sich die Mannschaft aus einer bedrohlichen Lage und zeigte dann in der K.o.-Phase, was sie seit nunmehr vier Jahren zeigt: Konzentration und Spielfluss am Rande der Perfektion. Die Kritiker waren zwar auch nach dem Finaleinzug gegen Portugal nicht verstummt, dem Team fehle es an Esprit und einer gewissen Leichtigkeit, manche hatten sogar ein langweiliges, zielloses Ballgeschiebe ausgemacht.

Vicente Del Bosque wehrte sich seit Turnierbeginn gegen die Krittelei, besonders die Stimmen aus dem eigenen Land machten den großen Schweiger mürrisch. Und dann zog er eine neue Trennlinie zwischen seiner Mannschaft und dem Rest zumindest Europas.

Genau die richtige Taktik

Im Kollektiv stürzten sich seine Spieler auf den Gegner Italien, der im Halbfinale noch den taktischen Missgriff der deutschen Mannschaft zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hatte. Andrea Pirlo wurde weder isoliert, noch in Manndeckung genommen. Es wurden ihm in erster Linie alle Zuspielwege versperrt durch fünf, sechs, manchmal sieben spanische Feldspieler in der Hälfte der Italiener.

Als hätte jemand vorher angekündigt, einen Lehrfilm über aggressives Pressing und Gegenpressing drehen zu wollen und die Spanier darum gebeten, dieses doch bitte in seiner reinstes Form zu zelebrieren. Die spanische Taktik war die Antwort darauf, wie man die Stärken des Gegners aus dem Spiel nimmt; Italien war bisweilen derart weit entfernt vom gegnerischen Tor, dass Iker Casillas weit vor dem eigenen Strafraum lauern konnte.

Da die Mannschaft bei Ballgewinn dann eben nicht nur in ihr stereotypes Verhalten verfiel, sondern auch einige irrwitzige schnelle Tempogegenstöße einstreute, wurde das Spiel der Spanier plötzlich so unberechenbar und nicht zu greifen, dass wohl keine Mannschaft der Welt an diesem Abend auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte.

Unglaubliche Serie

Del Bosque reagierte auf die besonderen Gegebenheiten, immerhin hatte Italien einen Tag weniger Pause zur Regeneration, und wurde ausgiebig dafür belohnt. Riccardo Montolivo, der selbst nach gut einer Stunde völlig erschöpft ausgewechselt werden musste, sah darin aber nur den letzten aller Gründe für die Demontage.

"Vielleicht waren wie ein bisschen müde", sagte Montolivo. "Aber wenn die Spanier voll spielen, hat man wenige Chancen. Dann gewinnt keiner gegen sie!" Spanien durchpflügte die K.o.-Phase erneut mit weißer Weste, nunmehr sind die Iberer seit zehn Spielen in Alles-oder-Nichts-Spielen ohne Gegentor.

Vor der Partie war die Zwei-Stürmer-Strategie der Italiener in den Fokus gerückt und wie die Spanier in Innenverteidigung und defensivem Mittelfeld wohl darauf reagieren würden. Sie reagierten mit ihrer ganz eigenen taktischen Ausrichtung und ohne erneut einen echten Stürmer zu nominieren.

"Wir haben Stürmer im Kader, aber wir stellten Spieler auf, die besser zu unserer Art Fußball passten", erklärte Del Bosque seine Überlegungen und fügte dann fast schon entschuldigend an: "Wir haben eben sehr intelligente Spieler..."

Die Normalität des Siegens

15 Herausforderer waren dieses Mal angetreten, um die spanische Phalanx der letzten Jahre endlich zu durchbrechen. Die aber spulten lange Zeit ihr Pensum runter und zeigten dann ganz am Ende, worauf sich der Rest auch in den nächsten Jahren wird einstellen müssen: Auf eine Mannschaft, die noch lange nicht satt ist und ihre Überlegenheit fast schon aufreizend beiläufig zur Kenntnis nimmt.

"Vor vier Jahren war es eine Riesen-Euphorie, heute ist es fast schon normal", sagte Xabi Alonso kurz bevor er in den Bus einstieg. Es ist der spanische Alltag, von dem der Rest nur träumen kann.

Daten und Fakten: Spanien - Italien

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