Der Sieg gegen Polen ist Vergangenheit, nun steht für Deutschland in der Gruppenphase der Handball-WM die nächste schwierige Aufgabe gegen Russland an (17 Uhr im LIVE-TICKER). Im Interview mit SPOX spricht DHB-Kapitän Uwe Gensheimer über das neue Selbstverständnis im Team, ein Manko und das Leben in Katar.
SPOX: Herr Gensheimer, die ersten Tage bei der WM in Katar sind vorüber. Welchen Eindruck haben Sie bisher vom Leben in der Wüste?
Uwe Gensheimer: Für mich ist das Neuland, ich bin das erste Mal hier. Und ich bin nicht als Tourist gekommen, sondern als Profisportler. Als solcher sieht man in so kurzer Zeit meistens nur das Hotel und die Halle. Wir sind ansonsten nur mal zum Spazierengehen oder Kaffeetrinken rausgekommen. Deshalb bilde ich mir nicht ein, viel vom Leben hier zu wissen. Was mir aber gefällt: Dass es deutlich wärmer ist als in Deutschland (lacht).
SPOX: Das DHB-Team residiert im schicken Hilton, die gesamte Organisation der WM scheint zumindest bisher bestens zu passen, oder?
Gensheimer: Stimmt. Für uns ist alles super, das Hotel ist außerordentlich gut. Die Organisation, die Hallen, die Trainingsbedingungen - alles top. In den Hallen gibt es im Untergeschoss noch Trainingsfelder, teilweise vier, sodass mehrere Mannschaften parallel trainieren können. Wir können uns wirklich nicht beklagen.
SPOX: Nur die Zuschauerzahlen passen wie befürchtet nicht. Beim Spiel Deutschland gegen Polen war auf den Rängen nicht gerade der Teufel los.
Gensheimer: Das ist bislang das einzige Manko. Wenn eine Arena für 15.000 Zuschauer nur spärlich gefüllt ist, dann fehlt natürlich was. Man muss aber ehrlich sein: Dass die Hallen bei weitem nicht voll besetzt sind, gab es auch schon bei anderen großen Turnieren.
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SPOX: Dabei sind die Kataris um keinen Versuch verlegen, die Plätze zu füllen. Vor der Lusail Multipurpose Hall werden teilweise Tickets verschenkt, um die Unterstützung für das Heimteam zu gewährleisten, wurden sogar 60 Fans aus Spanien eingekauft. Was sagen Sie dazu?
Gensheimer: Ich hab das auch nur gelesen, was soll man da noch sagen? Für die spanischen Fans ist es mit Sicherheit eine tolle Sache, hier umsonst zur Weltmeisterschaft zu kommen. Vielleicht hätte man aber auch hier in Katar Menschen gefunden, die das gemacht hätten. Eventuell hat ja auch der spanische Trainer der Kataris, Valero Rivera, eine Rolle gespielt. Man weiß es nicht (lacht).
SPOX: Kommen wir zum Sportlichen zurück. Der Auftakt ist für Deutschland perfekt gelungen.
Gensheimer: Wir sind sehr glücklich über den Sieg, so stellt man sich den Start in ein Turnier vor. Über weite Strecken war das eine sehr gute Leistung, auf der man aufbauen kann.
SPOX: Ein Sieg gegen ein Topteam - und das bei einem großen Turnier wie der WM. Es war nach vielen Enttäuschungen vielleicht einer der größten Siege der deutschen Handball-Nationalmannschaft seit längerer Zeit.
Gensheimer: Das kann schon sein. Aber darüber sollten wir uns als Spieler keine Gedanken machen, wir dürfen dieses Spiel nicht überbewerten. Es war nur ein gutes Spiel, mehr nicht. Wir müssen schön auf dem Teppich bleiben. Und über die Vergangenheit wollen wir gar nicht mehr so viel nachdenken. Wir müssen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
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SPOX: Trotzdem. Der Wille war dem Team nie abzusprechen, auch unter Martin Heuberger nicht. Doch diese letzte Überzeugung, wie sie gegen Polen zu erkennen war, die fehlte in der Vergangenheit öfter. Kann man so ein neues Selbstverständnis lernen oder kommt das nur über Erfolge, wie es sie in der Vorbereitung gab?
Gensheimer: Ich denke, dass da beide Dinge ein Stück weit eine Rolle spielen. Damit meine ich gar nicht mal so sehr die Vorbereitungsspiele gegen Island und Tschechien, sondern die EM-Quali im Herbst gegen Österreich. Damals waren wir in Wien in einer ähnlichen Situation wie wir sie nun gegen Polen hatten, als das Spiel in der zweiten Hälfte zu kippen drohte.
SPOX: Die Österreicher erwiesen sich als äußerst lästig, am Ende stand ein hart erarbeiteter 28:24-Sieg zu Buche.
Gensheimer: Richtig. Da schafften wir es auch, uns immer wieder auf die nächste Situation zu konzentrieren. Ganz gleich, was unmittelbar davor passiert ist. Ein verworfener Siebenmeter, eine schlechte Aktion in der Abwehr - egal was. Sich voll auf das, was grade ist, konzentrieren zu können, ist ein Prozess. Und da spielten gegen Polen sicher auch die Erfahrungswerte aus dem Österreich-Spiel eine Rolle.
SPOX: Man weiß dann schon, was man kann, und muss nicht zweifeln?
Gensheimer: Ganz genau darum geht es. Wenn man schwierige Phasen in einem Spiel überwindet und letztlich gewinnt, dann gibt das viel Selbstvertrauen. Da ist man in der neuen Situation viel überzeugter, dass man es wieder schaffen kann. Die Ansage unter uns als Mannschaft und vom Bundestrainer ist einfach die, immer weiter zu machen. So kann man in der einen oder anderen Situation auch das Glück des Tüchtigen erzwingen.
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SPOX: Sie haben diese Denke offensichtlich verinnerlicht. Trotz der verworfenen Siebenmeter duckten Sie sich nicht weg. Ganz im Gegenteil: Sie sind weiter vorangegangen. Wobei man das von einem Kapitän auch erwarten darf.
Gensheimer: Es ist natürlich so, dass ich als Kapitän vorangehen muss und die jüngeren Spieler mitziehen möchte. Aber eigentlich hat das nichts mit dem Kapitänsamt zu tun. Nochmal: Es sollte egal sein, was war. Es gibt immer eine nächste Möglichkeit, um einen Fehler wettzumachen. So muss man die Sache angehen, dieses Selbstvertrauen ist wichtig.
SPOX: Silvio Heinevetter scheint es derzeit ein wenig an Selbstvertrauen zu mangeln. Gegen Polen durfte er anfangen, erwischte aber wieder nicht seinen besten Tag. Er steht seit einiger Zeit bei manchen Medien und von Seiten einiger Fans in der Kritik. Wie geht die Mannschaft damit um und wie hilft sie ihm?
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Gensheimer: Heine kann an einem guten Tag ein Spiel alleine gewinnen. Er ist ein Typ, der viel über die Emotionen kommt. In diesem Punkt können wir ihn als Team unterstützen, in dem wir ihn pushen. Für uns als Mannschaft steht außer Frage, dass er in der Lage ist, Leistungen zu bringen, die uns sehr weiterhelfen.
SPOX: Und wenn es an einem Tag trotzdem mal nicht läuft?
Gensheimer: Jeder von uns Spielern weiß, dass wir nicht nur zwei, sondern drei richtig gute Torhüter haben. Derjenige, der spielt, muss seine Leistung möglichst bringen. Darauf müssen wir uns verlassen können. Ob das nun Silvio Heinevetter, Carsten Lichtlein oder Andreas Wolff ist, ist uns letztlich egal. Es geht bei einer WM darum, Erfolg zu haben. So sehen es auch die drei Jungs. Unter den Torhütern gibt es keinen Neid oder so etwas.
SPOX: Derzeit hat Lichtlein die Nase vorn. Was er seit Monaten zeigt, ist beeindruckend.
Gensheimer: Absolut. Er spielt nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch in der Bundesliga eine Saison auf konstant sehr hohem Niveau. Carstens Leistungen sind derzeit wirklich außerordentlich. Und er beweist es immer wieder aufs Neue.
SPOX: Eine starke Torhüterleistung muss - egal von wem - auch gegen Russland her. Dagur Sigurdsson lässt keine Gelegenheit aus, um vor den Russen zu warnen. Zurecht?
Gensheimer: Wir kennen die russische Mannschaft gut, deshalb weiß Dagur, von was er redet. Die Russen spielen seit längerer Zeit in ihrer jetzigen Formation zusammen, sie sind also sehr eingespielt und auch routiniert. Auch deshalb ist es wichtig, das erste Spiel nicht zu hoch zu hängen und mit voller Konzentration auf Russland hinzuarbeiten. Wir müssen mit der gleichen Einstellung wie gegen Polen ins Spiel gehen.
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SPOX: Welcher Bereich könnte entscheidend sein?
Gensheimer: Gegen Polen machten wir in der ersten Halbzeit fast keinen technischen Fehler. Gelingt uns das auch gegen Russland, würde es die Sache deutlich erleichtern. Denn somit räumt man dem Gegner einfach weniger Chancen ein.
SPOX: Vor der WM wollten Sie sich kein konkretes Ziel setzen. Hat sich daran nach dem ersten Spiel etwas geändert?
Gensheimer: Die Spitze im Welthandball ist sehr eng beieinander, da entscheidet oft die Tagesform. Und das macht es doch auch für uns alle so interessant. Deshalb geben wir auch jetzt noch kein konkretes Ziel aus. Lasst uns alle gemeinsam Schritt für Schritt gehen.
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