Das Glück erzwungen, die Handball-Größen begeistert. Die bärenstarke zweite Halbzeit des DHB-Teams beim 27:26-Sieg gegen Russland reißt alle vom Hocker. Auch Silvio Heinevetter macht einen Schritt in die richtige Richtung.
"Sensationell", "Unglaublich", "Wunderbar". Ob Heiner Brand, Henning Fritz, Daniel Stephan oder Stefan Kretzschmar: Wem man nach dem Spiel in der Lusail Multipurpose Hall auch über den Weg lief, alle waren sie vom Auftritt des DHB-Teams begeistert.
Wohlgemerkt war mit den Lobeshymnen lediglich die zweite Halbzeit gemeint. Nach den ersten 30 Minuten gab es nämlich nicht nur auf der Pressetribüne lange Gesichter. Mangelnde Kreativität, technische Fehler und daraus resultierende Tempogegenstöße, kombiniert mit einem starken Gegner, hatten einen 9:13-Pausenrückstand zur Folge.
Schon fürchtete mancher, das bisschen Euphorie, das durch den tollen Auftritt gegen Polen in der Heimat entstanden ist, könnte wieder kaputt gemacht werden. Die Zweifel wurden zerschlagen, auf eindrucksvolle Art und Weise.
Von einer Mannschaft, die von der ersten Sekunde der zweiten Hälfte an einen unglaublichen Willen und eine mitreißende Leidenschaft an den Tag legte. Von einer Mannschaft, die nur noch wenig mit der Truppe zu tun haben scheint, die noch im Juni in den Playoffs gegen Polen die WM-Quali vergeigte. Von einer Mannschaft, der mittlerweile bewusst ist, was sie zu leisten im Stande ist.
Druck, Druck, Druck
Druck. Druck. Druck. Das war alles, was Russland fortan zu spüren bekam. "In der zweiten Halbzeit sind wir energisch auf die Lücken gegangen und haben uns so klare Möglichkeiten erspielt", begründete Mimi Kraus die Durchschlagskraft, mit der das Team nun agierte. Auch in der Deckung langten die Deutschen nicht mehr so zimperlich hin.
Dem Team von Coach Oleg Kuleshov war kaum noch eine Aktion vergönnt, ohne dass ein oder zwei deutsche Spieler ihre Hände am Gegner hatten. Diese Aggressivität führte womöglich auch dazu, dass die Russen Sekunden vor Schluss, als sie in Überzahl die Chance zum Ausgleich hatten, den Ball panisch ins Aus warfen.
"In dieser Situation hatten wir sicherlich auch ein wenig Glück", stellte Patrick Groetzki später in der Mixed Zone fest. Bundestrainer Dagur Sigurdsson stimmte seinem Rechtsaußen zu, bemerkte aber auch: "Das gehört dazu. Und es tut uns sehr gut."
Vorbild Gensheimer
Nach dem russischen Pass ins Nichts gab es jedenfalls kein Halten mehr. Die Spieler tanzten im Kreis, Vizepräsident Bob Hanning fiel seinem Noch-Füchse-Coach Sigurdsson um den Hals, und Bernhard Bauer musste erst einmal tief durchatmen, ehe er etwas sagen konnte. "Das war ein leidenschaftlicher Kampf bis zur letzten Sekunde. Wir haben das Spiel umgebogen, da wir in der zweiten Halbzeit alles auf die Platte gebracht haben. Das gibt eine breite Brust", so der DHB-Boss.
Die hatte Uwe Gensheimer schon vorher. Der Linksaußen machte seinem Kapitänsamt in seinem 100. Länderspiel alle Ehre und ging unermüdlich vorne weg. Neun Tore standen am Ende für den Mann von den Rhein-Neckar Löwen zu Buche. Man kann Gensheimers Vorstellung ohne zu übertreiben mit nur einem Wort beschreiben: Weltklasse!
Uwe Gensheimer im SPOX-Interview
Davon wollte der 28-Jährige allerdings nicht wissen. Gensheimer - auch hier ganz der vorbildliche Kapitän - interessiert sich in erster Linie für den Erfolg der Mannschaft. "Dieser Sieg kann uns für den weiteren Verlauf einen Schub geben", erklärte er.
Heinevetter auf dem richtigen Weg
Für einen Mann sollte das ganz besonders gelten. Dem zuletzt glücklosen und zunehmend in der Kritik stehenden Silvio Heinevetter. Eigentlich waren sich vor der Partie fast alle sicher, dass Sigurdsson diesmal Carsten Lichtlein den Vorzug zwischen den Pfosten geben würde. Zumal der Gummersbacher nach seiner Hereinnahme gegen Polen großartig gehalten hatte.
Zeitweise wurde gar gemunkelt, Andreas Wolff könnte statt Heinevetter eine Chance erhalten. Weit gefehlt: Als es losging, stand wieder Heinevetter auf der Platte, Lichtlein nahm auf der Bank Platz, Wolff auf der Tribüne.
"Ich hatte da so ein Bauchgefühl", begründete Sigurdsson seine Entscheidung. Das ließ den Isländer nicht im Stich. Nicht einmal eine Minute war gespielt, da parierte der Berliner schon den ersten Siebenmeter. Wie gut ihm das tat.
"Können uns gut ergänzen"
In der Folgezeit legte er sich mit den Gegenspielern an, diskutierte mit den Schiedsrichtern über fast jede noch so banale Entscheidung und ging wie das HB-Männchen an die Decke, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen klappte. Endlich wieder typisch Heinevetter. Er braucht das einfach, um sein volles Leistungsvermögen zu entfalten.
Das gelang ihm summa summarum gegen Russland zwar noch nicht ganz, ein Schritt in die richtige Richtung war seine Vorstellung aber allemal. Nach gut 40 Minuten brachte Sigurdsson dennoch Lichtlein ins Spiel, der mit der einen oder anderen Glanzparade seinen Anteil am Sieg hatte.
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"Wir sind unterschiedliche Typen, der Heine und ich. Aber wir können uns sehr gut ergänzen. Das haben wir heute geschafft", sagte Lichtlein und unterstrich damit, wie wichtig zwei formstarke Torhüter sind, um bei einer Weltmeisterschaft weit zu kommen.
1, 2 oder 3?
Die Möglichkeit, weit zu kommen, scheint nach den bisherigen Eindrücken nicht unrealistisch. Der Achtelfinaleinzug ist quasi verbrieft. Den Pflichtsieg gegen Saudi-Arabien eingerechnet, geht es nur noch um die Frage, ob Deutschland als Erster, Zweiter oder Dritter in die Runde der letzten 16 einzieht.
Eine erste Antwort darauf gibt es am Dienstag, wenn der Knaller gegen Dänemark (19 Uhr im LIVE-TICKER) auf dem Programm steht. Danach erneut begeisterten Größen des deutschen Handballs zu begegnen - was gäbe es schöneres?
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