Es ist zumeist ein Indiz für einen historisch prägenden Vorgang, wenn über eine Regel-Änderung nachgedacht wird. Gelegentlich geht es dabei darum, Finanzielles zu regulieren (Bird Rights, Derrick Rose Rule), gelegentlich soll auch das Spiel attraktiver gemacht werden. Doch in einigen seltenen Fällen soll auch die Dominanz einzelner Spieler eingedämmt werden.
So wurden 1967 im College-Basketball Dunks verboten, um die Dominanz Kareem Abdul-Jabbars zu verringern - mit mäßigem Erfolg. In der NBA wurden die Zone vergrößert und Offensive Goaltending eingeführt, um Wilt Chamberlain einzuschränken - ebenfalls ohne großen Erfolg. Derzeit kommt die Diskussion auf, ob man nicht die Dreierlinie nach hinten verlegen sollte.
In der Theorie würde das Stephen Curry, den besten Shooter aller Zeiten, ein wenig behindern. In der Praxis? Es wäre für Curry von Vorteil. Die größte Distanz zwischen aktueller Dreierlinie und Korb beträgt 7,239 Meter, in den Ecken sind es sogar bloß 6,706 Meter. Curry hat 94 seiner 136 Dreier in dieser Saison aus einer Entfernung zwischen 7,62 und 8,39 Metern genommen. Seine Quote dabei? 53,9 Prozent...
Nein, eine Rückverlegung der Dreierlinie wäre ein Vorteil für Curry, der de facto schon jetzt meist von weiter draußen abschließt. Sie würde die Dominanz des MVPs noch weiter vergrößern, da niemand sonst diese Range mitbringt. Nicht, dass sie nicht jetzt schon beeindruckend genug wäre.
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Besser als Jordan?
Curry hat in den ersten zwölf Saisonspielen 404 Punkte erzielt (33,7 im Schnitt), die beste Ausbeute zum Saisonstart seit Kobe Bryant in seiner "Ich-gegen-die-Welt"-Saison 2005/06. Nur dreimal seit Einführung der Dreierlinie waren Spieler zum Saisonstart erfolgreicher: Zweimal gelang es Michael Jordan (1987 und 1989: 447 Punkte) und einmal Alex English (1986: 405).
Das Volumen ist aber nicht das Beeindruckende (na gut, nicht das einzig Beeindruckende). Es ist die Effizienz. Ziehen wir mal die 1987er Saison von Jordan zum Vergleich heran: MJ stand in den ersten 12 Spielen 489 Minuten auf dem Court. Curry anno 2015? 426. Das sind fast genau eineinhalb Spiele weniger!
MJ brauchte für seine 447 Punkte 362 Feldwürfe. Curry? 259. Für alle Kopfrechner: Das sind 103 Würfe weniger. Auch diese Tatsache sollte man erst einmal sacken lassen...
Fällt die 400?
Curry setzt seit Jahren Maßstäbe, was die Nutzung des Dreiers angeht, in dieser Saison befindet er sich aber auch für seine Verhältnisse auf einem monströsen Kurs. Mit 286 getroffenen Dreiern überbot er in der vergangenen Saison seinen eigenen Rekord, dieses Jahr wird mit Sicherheit die 300 fallen - vielleicht sogar die 400. Curry lässt pro Spiel unglaubliche 11,3 Triples durch die Gegend fliegen, er trifft dabei aber eben auch unglaubliche 45,6 Prozent.
Was dabei umso frustrierender für die hilflosen Verteidiger ist: Es spielt kaum eine Rolle, ob Curry per Pick'n'Roll (zumeist durch Draymond Green) zum Catch-and-Shoot freigespielt wird oder sich mit seinem überragenden Ballhandling selbst den winzigen Freiraum verschafft, den er für Pullups braucht - aus dem Dribbling schließt er sogar leicht besser ab (44,6 Prozent 3FG vs. 40,7).
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Noch verrückter: Wenn er nach Definition von nba.com/stats "eng" verteidigt wird, trifft er exakt die Hälfte seiner Dreier! Von der Dreierlinie ist er sogar am effizientesten, wenn er vorher siebenmal (oder häufiger) gedribbelt hat (52,9 Prozent) - wie genau soll man das verteidigen? Zumal es auch keine besonders reizvolle Alternative ist, Curry von der Dreierlinie "wegzujagen".
Curry hat sich auch innerhalb der Dreierlinie gesteigert, trifft in dieser Saison fast 60 Prozent seiner "Zweier" - und direkt am Korb sind es sogar 68,2 Prozent. Kurzum: Sein Shotchart spuckt von nahezu jedem Sektor des Courts Feuer. An die Freiwurflinie schicken sollte man einen 92-prozentigen Shooter ebenfalls nicht...
Green als Wingman Deluxe
Curry ist ein Rätsel, das derzeit niemand zu lösen imstande ist. Wer ihm ab der Mittellinie auf den Füßen steht und Double-Teams schickt, riskiert daraus resultierende Unterzahl-Situationen, zumal Curry auch immer noch ein sehr williger und intelligenter Passer ist.
Seine Assistzahlen sind im Vergleich zur Vorsaison etwas zurückgegangen, das ist aber nur logisch, da er mehr abseits des Balls eingesetzt wird und der ebenfalls noch einmal stark verbesserte Green vermehrt als Playmaker auftritt. Green ist häufig Currys erste Anspielstation und ein Meister darin, bei Überzahl entweder Lobs oder Pässe in die Ecken zu spielen.
Die Vielseitigkeit Greens, der bei Golden State mittlerweile die unangefochtene Nummer zwei ist, macht dieses Team in Kombination mit Curry so eklig zu spielen. Die Gegner wissen um die beiden größten Stärken der Dubs und sind trotzdem nicht in der Lage, sie zu stoppen.
Es ist eine relativ simple Gleichung: Nimm' Curry in den Schwitzkasten und spiel' 3-gegen-4 - oder versuch' es mit konventioneller Defense und sieh' zu, wie der MVP es von draußen Flammen regnen lässt.
Bestes PER aller Zeiten
Alles in allem braut der Chef in dieser Saison ein Rezept zusammen, das ihm Stand jetzt wohl den zweiten MVP-Award bescheren würde - und das im historischen Kontext seinesgleichen sucht. Eine 50-40-90-Saison mit über 30 Punkten im Schnitt? Das hat es (logischerweise) noch nie gegeben.
Sein derzeitiges Player Efficiency Rating von 34,96 wäre ebenfalls mit Abstand Platz eins all-time - den bisherigen Rekord hält Wilt Chamberlain mit 31,82. Gleiches gilt für Currys Win Shares pro 48 Minuten, also die geschätzte Anzahl von Siegen, die ein Spieler seinem Team pro 48 Minuten einbringt: Den Rekord hält Kareem Abdul-Jabbar mit 0,34, Curry steht bei absurden 0,38.
Beim True Shooting ist er noch nicht ganz auf Rekordkurs - allerdings haben über eine Saison bisher auch bloß fünf Spieler bessere Werte aufgelegt als seine derzeitigen 68,9 Prozent. Den Rekord hält Tyson Chandler mit knapp 71 Prozent.
Bei der Statistik, die sämtliche Field Goals und Freiwürfe mit einbezieht, galten eigentlich Big Men oder Spezialisten wie Steve Kerr und Kyle Korver (2014/15: 69,87 Prozent) als übervorteilt - bis Curry einfach damit anfing, bei ungleich höherem Volumen ähnliche Quoten aufzulegen wie ebenjene Spezialisten. Das war eigentlich nicht vorgesehen. Es ist, als hätte Curry einen Cheatcode zum Spiel gefunden.
Mehr Usage als gewollt
Bleibt eigentlich nur noch zu klären, ob Curry diese irrsinnigen Leistungen aufrechterhalten kann - oder ob das überhaupt sinnvoll ist. Er spielt derzeit zwar "nur" 35,5 Minuten pro Spiel, was wie schon letztes Jahr auch dadurch bedingt ist, dass die Dubs viele Spiele schon frühzeitig für sich entscheiden können. Seine Usage Rate ist mit 33,4 allerdings um 4,5 Prozentpunkte gestiegen.
Das ist zwar noch nicht direkt alarmierend - Russell Westbrook etwa nutzte vergangene Saison 38,37 Prozent aller Ballbesitze der Thunder -, für ein so tiefes Team wie Golden State aber auf Dauer etwas viel. Currys derzeitiger Output ist zumindest teilweise auch der Leistungen seiner Mitspieler geschuldet.
Green ist davon ausgenommen - der Forward spielt noch besser als in der vergangenen Saison und ist defensiv wie auch offensiv nicht wegzudenken aus dem Konzept der Dubs. Er ist mittlerweile der kongeniale Partner, derjenige, der Stephs einzigartiges Spiel perfekt komplementiert. Klay Thompson (36,4 Prozent 3FG) und Harrison Barnes (30,6) dagegen blieben zum Saisonstart noch deutlich zu oft unter ihren Möglichkeiten, ebenso wie einige Bankspieler.
Sand im Getriebe ohne Steph
Geht Curry auf die Bank, erlahmt die Offense ein Stück weit und produziert mit 99,8 Punkten pro 100 Ballbesitzen 14,6 Punkte weniger als mit ihm. Für die meisten Teams reicht das trotzdem; wie gesagt, die Dubs sind enorm tief und defensiv sogar noch ein Stück besser, wenn Curry sitzt.
Einige Male in dieser Saison wurden ohne den MVP auf dem Court aber auch schon Runs zugelassen, die nahezu entschiedene Spiele wieder unnötig interessant machten. Beim Sieg in Minnesota etwa holte Golden State die Wolves mehrfach zurück in die Partie und war am Ende darauf angewiesen, dass Curry zur Rettung bereitstand.
Das tat er dann allerdings auch. Es gibt für Teams derzeit nichts Gefährlicheres, als Curry bei einer seiner Explosionen gegen sich zu haben - schon jetzt hat er in dieser Saison vier Viertel mit mindestens 20 Punkten hingelegt. Damit hat er viermal so viele wie der Rest der NBA (vertreten von C.J. McCollum).
The World is Yours
Um noch einmal darauf zurückzukommen: Es ist unwahrscheinlich, dass Curry eine ganze Saison über so viel werfen wird. Die Warriors sind dafür zu tief, sein Supporting Cast zu gut, als dass er sein Team so regelmäßig tragen müsste. Und das ist auch vollkommen in Ordnung.
Der Superstar mit dem Antlitz eines Schuljungen hat über die ersten 12 Spiele der Saison bewiesen, was auch nach dem MVP-Award samt Meisterschaft noch kaum jemand wahrhaben wollte: Die verheerendste Offensivwaffe, der gefährlichste Spieler der Liga hört in diesen Tagen nicht auf den Namen Durant, James, Davis, Westbrook oder Harden. Es ist Wardell Stephen Curry II.
Oder, um es mit dem großen Philosophen Draymond Green zu sagen: "Er spielt jetzt so, als würde die Liga ihm gehören." Das tut sie auch.