Wir schreiben den 11. Januar 2014. Playoffs, Divisional Round. Drittes Viertel, 6:48 Minuten sind noch auf der Uhr. New England liegt 21:28 gegen die Baltimore Ravens zurück. Tom Brady positioniert sich wie gewöhnlich hinter dem Center. Edelman läuft einmal quer die Line of Scrimmage entlang. Der Snap, ein schneller Lateralpass auf die Nr. 11, diese findet nach kurzem Scan einen völlig freien Mann - und wirft zu Danny Amendola. Touchdown! Touchdown? Geworfen von Julian Edelman? Genau. Ist der nicht Wide Receiver? Ja, ist er.
Aber als solcher kam er nicht auf die Welt.
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Julian Francis Edelman wuchs in Kalifornien als Fan der San Francisco 49ers auf. Bereits mit vier Jahren war ihm klar, was er werden wollte: Footballspieler. Als Kind wartete er jeden Tag darauf, dass sein Vater nach Hause kam, damit die beiden zum Training fahren konnten - Frank Edelman trainierte damals die Mannschaft seines Sohnes.
Der Traum vom Profisport schien in der High School zunächst ziemlich unrealistisch. Edelman litt in seinen Anfangsjahren an der Woodside-High-School an Wachstumsproblemen. In seinem Freshman-Year war "The Squirrel" ("Das Eichhörnchen"), wie er sich selbst am liebsten nennt, gerade einmal 1,50 Meter klein und hatte als Quarterback keine Chance auf den Job als Starter.
Dank eines Wachstumsschubs durfte Edelman im letzten Jahr schließlich von Beginn an spielen und verabschiedete sich von seiner High School mit einer perfekten Saison ohne Niederlage. In einer Fernsehshow wurde er kürzlich befragt, wie viele Colleges anschließend Interesse an ihm hatten. Die damals für ihn ernüchternde Realität: "Kein einziges. Sie haben mich nicht einmal wahrgenommen - und das habe ich schon persönlich genommen."
QB in der NFL? Keine Chance!
Nach einem Jahr am Junior College in San Mateo, an dem der Scramble-freudige Quarterback insgesamt 31 Touchdowns erzielte, bekam er ein Stipendium an der Kent State University in Ohio angeboten. "Es war definitiv ein Kulturschock. Ich war ein Junge aus Kalifornien mit gestylten Haaren und kam nach Ohio, wo sie nur Country-Musik gehört haben", erinnert sich Edelman. In seiner neuen Heimat konnte er dennoch überzeugen: In seinen drei Jahren als Starter warf er für 5.000 Yards und erzielte außerdem 2.000 Rushing-Yards.
Der nächste Schritt war zwangsläufig die NFL. Allerdings war dem heute 30-Jährigen mit deutschen Wurzeln bewusst, dass er als Quarterback keine Chance haben würde, sich durchzusetzen. Daher fuhr er im Winter nach seiner Senior-Season jeden Tag 90 Minuten zu einem Trainingszentrum in Cleveland, um sich zum Wide Receiver umschulen zu lassen.
Die Mühe reichte trotzdem nicht, um zur Combine eingeladen zu werden. Edelmans einzige Chance, sich vor Scouts zu präsentieren, war somit der Pro Day. Dort erzielte er in dem Drill "Short Shuttle" sogar die landesweit beste Zeit. Bei dieser Übung wird vor allem Wendigkeit und Beschleunigung getestet. Die anwesenden Scouts wollten Edelmans Leistungen nicht wahrhaben, ein Teamkollege erzählte später: "Sie ließen ihn die Übung drei, vier Mal wiederholen, weil seine Zeit so gut war." Sie stimmte. Nichtsdestotrotz gab es keine Garantie dafür, es auch wirklich in die NFL zu schaffen.
Es sollte schließlich die siebte Runde und der 232. Pick des Drafts 2009 werden, der das Leben des damals 23-Jährigen veränderte. Bill Belichick sah in dem Quarterback, welcher mittlerweile Wide Receiver war, ein gewisses Talent. "Ich weiß nicht, wie wir dich einsetzen werden. Aber du hast es drauf", sagte der Pats-Coach seinem neuen Spielzeug nach dem Draft.
Doch warum entschied sich Belichick für den Mann, dem auf seiner neuen Position jegliche Wettkampfpraxis fehlte? Zum Einen waren die Pats bei den Receivern nicht allzu tief besetzt. Randy Moss und Sam Aiken etwa waren beide großgewachsen und nicht mehr die Jüngsten, bei Wes Welker war die Verletzungsgefahr durch harte Hits über die Mitte stets gegeben. Und: Eben jener Welker hatte im Slot mit Brady dominiert - gut möglich, dass Belichick mit Edelman einen ähnlichen Spielertyp als Welkers Backup oder späteren Nachfolger heranzüchten wollte. Für einen Siebtrundenpick ein vertretbares Risiko.
Start mit Schwierigkeiten
In seinem ersten Spiel als Patriot in der Preseason durfte Edelman gleich einen Punt returnen. Das Resultat? Ein Touchdown. Sollte das der Beginn einer großen, aus dem Nichts kommenden, Karriere werden? Nein. Oder besser gesagt: Zumindest noch nicht. Der frisch gebackene Wide Receiver kam in seinen ersten vier Spielzeiten zusammengerechnet nur auf 69 Catches und erlebte den Großteil der Snaps von der Bank aus.
Das fünfte Jahr sollte schließlich Edelmans Breakout-Season werden. Nachdem Welker und Brandon Llyod die Patriots verließen, Rob Gronkowski verletzt ausfiel und Aaron Hernandez aufgrund einer Mordanklage entlassen worden war, bekam er 2013 die Chance, als etablierter Starter für Furore zu sorgen.
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Der Receiver war sich des Drucks bewusst. "Es war eine emotionale Achterbahnfahrt als ich gesehen habe, dass die Verantwortlichen so viele Leute entließen und ich war keiner davon. Da dachte ich nur 'Wow, jetzt muss ich mich zeigen, um ihnen zu beweisen, dass sie mit ihrer Entscheidung richtig lagen.'" Und Edelman bewies den Patriots, dass sie mit ihrer Wahl sogar goldrichtig lagen: 105 Catches. 1.056 Yards. 6 Touchdowns. Brady hatte sein neues Lieblings-Eichhörnchen gefunden.
Den Spitznamen hatte er übrigens von Teamkollegen erhalten, nachdem er an der Seitenlinie zu seinen Teamkollegen gesagt hatte: "Don't let me get squirrely out there." Er hatte zuvor nämlich seine Eichhörnchen-Qualitäten bewiesen und die Cowboys-Defense alt aussehen lassen: Schnell, nicht zu halten, unberechenbare Richtungswechsel. Und immer auf der Suche nach "Nüssen".
"Es war ein harter Hit"
Im folgenden Jahr kam Edelman auf ähnliche Werte und zog mit New England sogar in den Super Bowl ein. Dort trumpfte der Wideout mit 9 Receptions und 109 Yards auf und erzielte im letzten Viertel den spielentscheidenden Touchdown. Zuvor lagen die Patriots mit zehn Punkten zurück, bei 3rd-and-14 von der eigenen 28-Yard-Linie fing er den kritischen Pass für 23 Yards Raumgewinn und musste als Preis dafür einen harten Hit von Kam Chancellor einstecken.
Nach dem Spiel gab es große Diskussionen um besagten Tackle - nicht wenige vermuteten, dass Edelman mit einer Gehirnerschütterung weitergespielt hatte. "Es war ein harter Hit. Aber was soll ich machen? Es ist der Super Bowl! Ich bin aufgestanden, habe mich kurz geschüttelt und es ging weiter", sagte der nach dem Spiel. Malcolm Butlers unvergesslicher Pick gegen Seattles Russell Wilson vollendete den ersten Super-Bowl-Ring Edelmans.
"Jules ist ein Playmaker"
Zwei Jahre später stehen die New England Patriots wieder mit Minitron, so nannte Brady Edelman nach dem Titel 2014 in Anspielung auf "Megatron" Calvin Johnson, im Super Bowl. The Squirrel hat wieder einmal eine starke Saison gespielt, in der er zwar nur drei Touchdowns erzielte, aber dennoch 98 Pässe fing und einen Karrierehöchstwert von mehr als 1.100 Yards auflegte. Seit Jahren ruft er in nahezu jedem Spiel konstant seine Leistungen ab und ist im Passing Game ohne den verletzten Gronk die wichtigste Option.
Das ist auch Tom Brady bewusst. "Er hat einen klasse Job gemacht. Das macht er immer. Jules ist ein Playmaker für unser Team. Er hat die Fähigkeiten, sich von seinen Verteidigern zu lösen und sowohl lange, als auch kurze Routes zu laufen. Und heute hat er das gezeigt", schwärmte der Patriots-QB nach dem Playoffspiel gegen die Houston Texans.
Mit den Atlanta Falcons wartet ein Gegner auf Belichicks Truppe, der in den Playoffs bereits Russell Wilson und Aaron Rodgers aus dem Weg räumen konnte. Aber Tom Brady und Co. zu schlagen, ist eine weitaus härtere Aufgabe. Denn egal in welcher Situation und bei welchem Down: Wenn die Nummer 12 in der Pocket steht und es um Sieg oder Niederlage geht, dann wird er Edelman suchen. Schon 84 Mal hat das in einem Playoff-Spiel funktioniert, und nach dem Super Bowl könnte Edelman sogar Reggie Wayne von Platz 2 (92 Playoff-Catches) verdrängt haben.
Dabei wird es keine Rolle spielen, wie physisch die Falcons das Eichhörnchen verteidigen werden. Sollte er einen harten Hit einstecken, wird er eben einfach aufstehen und weiterspielen. Was hat er auch für eine Wahl? Es ist der Super Bowl.