"Gewinnt die Tournee nicht einfach so"

Felix Götz
29. Dezember 201513:13
Jens Weißflog gewann die Tournee gleich vier Malimago
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Er triumphierte vier Mal bei der Vierschanzentournee, erlebte aber auch bittere Pleiten: Jens Weißflog. Vor dem ersten Springen in Oberstdorf (ab 17.15 Uhr im LIVETICKER) spricht der Floh vom Fichtelberg über Tournee-Tücken, Severin Freunds Chancen und Garmischer In-Kneipen. Zudem verrät der 51-Jährige, welch wichtige psychologische Rolle auf Werner Schuster zukommen könnte.

SPOX: Herr Weißflog, die Tournee steht direkt vor der Tür. Kribbelt es auch bei Ihnen schon?

Jens Weißflog: Oh ja, das tut es. Wenn auch auf ganz andere Art und Weise, wie es früher der Fall war. Als Sportler gab es schon Tage im Voraus kein anderes Thema mehr als die Tournee. Heute ist es eher so, dass ich mich darauf vorbereite, die Übertragungszeiten im Kopf zu haben. (lacht) Die wollen während der Tournee schließlich in den Tagesablauf integriert werden. Ich kann Ihnen versichern: Wenn es losgeht, bin ich auch heute noch aufgeregt. Ich werde mit den DSV-Springern mitfiebern.

SPOX: Was macht aus Ihrer Sicht den besonderen Reiz des Wettbewerbs aus?

Weißflog: Ich denke, man muss die anderen Skisprungnationen ein wenig ausblenden. Für die ist die Tournee auch wichtig, aber nicht so wichtig. Das Spezielle ist doch die deutsch-österreichische Rivalität. Dieser besondere regionale Bezug, der es zu einem Halb-Halb-Heimspiel macht. Das muss nicht immer ein Vorteil für die deutschen und die österreichischen Springer sein, es kann auch Druck bedeuten. Wissen Sie, was ich mir wünschen würde?

SPOX: Schießen Sie los.

Weißflog: Ich würde mir wünschen, dass die Tournee mal in Österreich beginnt und in Deutschland endet. Dann wäre der Druck zu Beginn für die Österreicher größer als für uns. Als Deutscher läuft man Gefahr, am Anfang vor heimischer Kulisse zu viel zu wollen und dann zu scheitern. Die Österreicher hingegen können erstmal relativ unbeschwert an die Sache rangehen. Das Drumherum ist vor Oberstdorf größer als bei den anderen Springen. Die Medien wollen viele Interviews führen, es gibt einige Pressekonferenzen. Ich glaube, der Druck ist in Oberstdorf für die Deutschen am größten.

SPOX: In diesem Jahr besonders für Severin Freund, schon jetzt sind alle Augen auf ihn gerichtet. Viele träumen vom ersten Tournee-Gesamtsieg nach Sven Hannawald, der mittlerweile 14 Jahre zurückliegt. Schafft Freund den großen Wurf?

Weißflog: Die Erwartungshaltung ist riesig, irgendwie scheint sich alles nur auf den Gesamtsieg zu konzentrieren. Man tut meiner Meinung nach Freund damit keinen Gefallen und muss realistisch bleiben. Wenn er es auf das Podest schafft, wäre das schon ein großer Erfolg. Die Chance dazu ist sicherlich so groß wie schon länger nicht mehr. Aber der Gesamtsieg? Da müssen so viele unterschiedliche Dinge perfekt passen. Man gewinnt die Vierschanzentournee nicht einfach so.

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SPOX: Sie haben die Tournee 1983/84, 1984/85, 1990/91 und 1995/96 gewonnen. Können Sie Freund keinen Rat geben, wie man das schafft?

Weißflog: Nein, das kann ich leider nicht. Es gab bei keinem meiner vier Siege diesen einen Moment, in dem ich gemerkt hätte, dass ich das oder das machen muss, um zu gewinnen. Jede der vier Tourneen, die ich gewonnen habe, hat sich komplett unterschiedlich entwickelt. Ich habe also kein Patentrezept. Andernfalls hätte ich die Tournee nicht "nur" vier Mal gewonnen. Schließlich kam ich acht Mal als Führender nach Bischofshofen - und wurde vier Mal noch ausgebremst. Man muss es auf sich zukommen lassen. Jede Situation bei einer Tournee ist neu und für sich besonders.

SPOX: Welche Rolle spielen die zahlreichen Unwägbarkeiten, die eine Tournee auszeichnen?

Weißflog: Grundsätzlich gilt für das heutige Skispringen, dass die äußeren Bedingungen einen immer größer werdenden Einfluss auf die Ergebnisse haben. Auch, weil das Leistungsvermögen so dicht beisammen liegt. Wenn wir Spitzenspringer früher einen kleineren Fehler gemacht haben, oder nicht ganz optimale Bedingungen hatten, war trotzdem oft noch der fünfte oder sechste Platz möglich. Heute bist du beim kleinsten Patzer ganz schnell nur noch auf Rang 15 zu finden. Und wenn dann die Bedingungen nicht gut sind, bist du gleich nochmal weiter hinten.

SPOX: Hat Freund denn Ihrer Meinung nach das nötige mentale Rüstzeug?

Weißflog: Da bin ich ganz sicher, auch wenn Freund wie fast das ganze Feld in dieser Saison noch nicht zu 100 Prozent stabil ist. Trotzdem hat er es mental drauf, er hat es sportlich drauf. Das hat er in der Vergangenheit schon so oft unter Beweis gestellt. Aber wie gesagt: Man kann - heute extremer als früher - nicht alles beeinflussen. Deshalb gehört zu einem Tournee-Sieg auch eine gehörige Portion Glück dazu.

Seite 1: Weißflog über Freund und Unwägbarkeiten

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SPOX: Würden Sie trotzdem den meisten Experten folgen und Peter Prevc als Topfavorit nennen?

Weißflog: Jein. Klar, er war zuletzt meistens vorn. Demzufolge kommt man um ihn natürlich nicht herum, wenn man über die Favoriten spricht. Aber wir haben in den letzten Jahren doch gesehen, dass nicht immer der gewonnen hat, der vor der Tournee die beste Form hatte. Es geht doch darum: Wie sind die Bedingungen an den einzelnen Tagen jeweils für den einzelnen Springer? Und da gibt es eben, wie angesprochen, unglaublich viele Unwägbarkeiten. Favoriten sind in den vergangenen Jahren teilweise nicht aufgrund von eigenen Fehlern, sondern wegen schlechter Bedingungen gescheitert.

SPOX: Wen muss man außer Prevc und Freund noch auf dem Zettel haben?

Weißflog: Schreibt mir die Österreicher nicht ab. Stefan Kraft war zuletzt wieder stärker, auch Michael Hayböck hat mir teils gut gefallen. Und die Norweger sind ohnehin brutal stark. Da ist mal der Eine, mal der Andere ganz vorne mit dabei. Es gibt also eine ganze Reihe von Springern, die zumindest an einem Tag ein Ergebnis komplett durcheinanderwirbeln können.

SPOX: Was geht für die anderen DSV-Adler?

Weißflog: Neben Freund sehe ich nur noch Richard Freitag, der ganz weit vorne landen könnte - zumindest was die Tagesergebnisse betrifft. Gelingt ihm gleich in Oberstdorf ein starkes Ergebnis, kann sich daraus natürlich so etwas wie ein Lauf entwickeln. Mal sehen, wie er seinen Sturz verdaut hat. Es kann sich mit der Zeit nämlich bei so etwas im Kopf etwas festsetzen, was man jetzt noch gar nicht auf dem Schirm hat.

SPOX: Apropos Psychologie. Wie groß ist während einer Tournee eigentlich der Einfluss des Bundestrainers auf den einzelnen Athleten?

Weißflog: Der Einfluss wird, je länger die Tournee dauert, immer wichtiger und auch größer. Wenn man beispielsweise vor dem Schlussspringen in Bischofshofen in der absoluten Spitze dabei ist, muss der Bundestrainer psychologische Hilfe leisten. Der Druck wird dann immer größer, die Gesamtwertung zeichnet ein relativ klares Bild. Es ist nicht leicht, mit so einer Situation ganz alleine fertig zu werden. Man hat bei den letzten beiden Tourneesiegern gesehen, wie wichtig eine entsprechende Hilfe ist. Ich erinnere mich noch, wie Thomas Diethart 2014 und Stefan Kraft 2015 bei den Trainingssprüngen in Bischofshofen die eine oder andere Schwäche zeigten. Da kommen bei einem Springer ganz schnell Zweifel auf. In so einer Phase ist die Erfahrung des Trainers enorm wichtig.

SPOX: Gibt es eine Tournee-Schanze, die besonders kompliziert ist?

Weißflog: Mittlerweile sind die Unterschiede nicht mehr ganz so groß. Aber am meisten unterscheidet sich ganz klar Bischofshofen von den anderen Schanzen. Wegen der Naturschanze und dem flachen Anlauf. Man kann sie mögen oder nicht. Ich habe drei Mal in Bischofshofen gewonnen, aber es gab auch Tage, an denen ich dort einfach nicht zurechtkam und die Tournee abgegeben habe. Früher war der Unterschied zwischen Innsbruck und Bischofshofen extrem. Heute ist er nicht mehr extrem, aber immer noch existent.

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SPOX: Traditionell steigt in Garmisch das Neujahrsspringen. Nervt es die Springer eigentlich, an Silvester nie die Sau rauslassen zu können?

Weißflog: Für mich persönlich wird Silvester grundsätzlich überbewertet. (lacht) Deshalb hatte ich damit nie ein Problem. Es war eigentlich immer so, dass ich darauf gewartet habe, dass es endlich Mitternacht ist, man kurz anstoßen kann und es dann endlich vorbei ist. Aber klar: Als Skispringer muss man sich an diesem Abend auch dann unter Kontrolle haben, wenn man Silvester toll findet. Es gab zu meiner Zeit schon den einen oder anderen Springer, der zu lange im Peaches, was damals so etwas wie eine In-Kneipe in Garmisch war, unterwegs war. Da soll es schon mal länger als bis 0.30 Uhr gegangen sein. Aber wie gesagt: Mich hat das nie interessiert.

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