SPOX: Herr Weißflog, die Tournee steht direkt vor der Tür. Kribbelt es auch bei Ihnen schon?
Jens Weißflog: Oh ja, das tut es. Wenn auch auf ganz andere Art und Weise, wie es früher der Fall war. Als Sportler gab es schon Tage im Voraus kein anderes Thema mehr als die Tournee. Heute ist es eher so, dass ich mich darauf vorbereite, die Übertragungszeiten im Kopf zu haben. (lacht) Die wollen während der Tournee schließlich in den Tagesablauf integriert werden. Ich kann Ihnen versichern: Wenn es losgeht, bin ich auch heute noch aufgeregt. Ich werde mit den DSV-Springern mitfiebern.
SPOX: Was macht aus Ihrer Sicht den besonderen Reiz des Wettbewerbs aus?
Weißflog: Ich denke, man muss die anderen Skisprungnationen ein wenig ausblenden. Für die ist die Tournee auch wichtig, aber nicht so wichtig. Das Spezielle ist doch die deutsch-österreichische Rivalität. Dieser besondere regionale Bezug, der es zu einem Halb-Halb-Heimspiel macht. Das muss nicht immer ein Vorteil für die deutschen und die österreichischen Springer sein, es kann auch Druck bedeuten. Wissen Sie, was ich mir wünschen würde?
SPOX: Schießen Sie los.
Weißflog: Ich würde mir wünschen, dass die Tournee mal in Österreich beginnt und in Deutschland endet. Dann wäre der Druck zu Beginn für die Österreicher größer als für uns. Als Deutscher läuft man Gefahr, am Anfang vor heimischer Kulisse zu viel zu wollen und dann zu scheitern. Die Österreicher hingegen können erstmal relativ unbeschwert an die Sache rangehen. Das Drumherum ist vor Oberstdorf größer als bei den anderen Springen. Die Medien wollen viele Interviews führen, es gibt einige Pressekonferenzen. Ich glaube, der Druck ist in Oberstdorf für die Deutschen am größten.
SPOX: In diesem Jahr besonders für Severin Freund, schon jetzt sind alle Augen auf ihn gerichtet. Viele träumen vom ersten Tournee-Gesamtsieg nach Sven Hannawald, der mittlerweile 14 Jahre zurückliegt. Schafft Freund den großen Wurf?
Weißflog: Die Erwartungshaltung ist riesig, irgendwie scheint sich alles nur auf den Gesamtsieg zu konzentrieren. Man tut meiner Meinung nach Freund damit keinen Gefallen und muss realistisch bleiben. Wenn er es auf das Podest schafft, wäre das schon ein großer Erfolg. Die Chance dazu ist sicherlich so groß wie schon länger nicht mehr. Aber der Gesamtsieg? Da müssen so viele unterschiedliche Dinge perfekt passen. Man gewinnt die Vierschanzentournee nicht einfach so.
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SPOX: Sie haben die Tournee 1983/84, 1984/85, 1990/91 und 1995/96 gewonnen. Können Sie Freund keinen Rat geben, wie man das schafft?
Weißflog: Nein, das kann ich leider nicht. Es gab bei keinem meiner vier Siege diesen einen Moment, in dem ich gemerkt hätte, dass ich das oder das machen muss, um zu gewinnen. Jede der vier Tourneen, die ich gewonnen habe, hat sich komplett unterschiedlich entwickelt. Ich habe also kein Patentrezept. Andernfalls hätte ich die Tournee nicht "nur" vier Mal gewonnen. Schließlich kam ich acht Mal als Führender nach Bischofshofen - und wurde vier Mal noch ausgebremst. Man muss es auf sich zukommen lassen. Jede Situation bei einer Tournee ist neu und für sich besonders.
SPOX: Welche Rolle spielen die zahlreichen Unwägbarkeiten, die eine Tournee auszeichnen?
Weißflog: Grundsätzlich gilt für das heutige Skispringen, dass die äußeren Bedingungen einen immer größer werdenden Einfluss auf die Ergebnisse haben. Auch, weil das Leistungsvermögen so dicht beisammen liegt. Wenn wir Spitzenspringer früher einen kleineren Fehler gemacht haben, oder nicht ganz optimale Bedingungen hatten, war trotzdem oft noch der fünfte oder sechste Platz möglich. Heute bist du beim kleinsten Patzer ganz schnell nur noch auf Rang 15 zu finden. Und wenn dann die Bedingungen nicht gut sind, bist du gleich nochmal weiter hinten.
SPOX: Hat Freund denn Ihrer Meinung nach das nötige mentale Rüstzeug?
Weißflog: Da bin ich ganz sicher, auch wenn Freund wie fast das ganze Feld in dieser Saison noch nicht zu 100 Prozent stabil ist. Trotzdem hat er es mental drauf, er hat es sportlich drauf. Das hat er in der Vergangenheit schon so oft unter Beweis gestellt. Aber wie gesagt: Man kann - heute extremer als früher - nicht alles beeinflussen. Deshalb gehört zu einem Tournee-Sieg auch eine gehörige Portion Glück dazu.