"Entscheidend ist der angeborene Instinkt"

Von Interview: Haruka Gruber
Marcelinho Huertas wechselte 2011 von Caja Laboral zum FC Barcelona
© imago

Der brasilianische Steve Nash. Der Urtypus eines Spielmachers. Das Hirn des Euroleague-Titelfavoriten FC Barcelona. Marcelinho Huertas (29) über den Glaubenskrieg unter den Point Guards in Europa und der NBA.

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SPOX: Dirk Bauermann verglich Sie in der SPOX-Triangle-Offense mit Steve Nash. "Marcelinho Huertas besitzt ein ähnliches Gefühl für das Spiel", sagt der ehemalige Bundestrainer. Sehen Sie selbst Parallelen?

Marcelinho Huertas: Wow, das ist eine große Ehre, so etwas von einem Coach wie Herrn Bauermann zu hören. Trotzdem möchte ich mich bloß nicht mit Steve Nash vergleichen. Mich macht so ein Kompliment natürlich glücklich, allerdings trennen uns Welten. Es ist faszinierend, wie leicht es immer aussieht, wenn Nash den Basketball in der Hand hält. Als Jugendlicher habe ich eine Zeitlang in Dallas gelebt und konnte ihn live sehen. Er und Jason Kidd waren früher meine Idole.

SPOX: Nash sagt, dass er als Point Guard davon profitiert, früher Fußball gespielt zu haben, weil es die räumliche Wahrnehmung verbessern würde. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Huertas: Ich war nie im Verein, aber wie wahrscheinlich jeder Brasilianer spiele ich gerne Fußball. Ich kann auch mit dem Basketball am Fuß ordentlich kicken. Doch ohne Nash widersprechen zu wollen: Ich weiß nicht, ob Fußball wirklich dabei hilft, ein besserer Spielmacher zu sein. Viel entscheidender ist für mich der angeborene Instinkt. Bei jedem Point Guard muss tief im Inneren das Uneigennützige verankert sein.

SPOX: Man kann es demnach nicht lernen, zu einem Floor General zu werden?

Huertas: Wenn ein gewisses Grundtalent dafür nicht vorhanden ist, wird es sehr schwer, weil ein Point Guard so viele Aufgaben zu erfüllen hat. Das Passen an sich ist nur eine Facette. Du musst dich als Leader sehen und selbst die Initiative ergreifen, wenn du von einer Entscheidung überzeugt bist. Gleichzeitig muss du als verlängerter Arm des Trainers seine Anweisungen befolgen und die anderen instruieren. Außerdem sollte ein Point Guard ein Kontrollfreak sein, der alles im Blick hat: Welcher Spieler in meiner Mannschaft hat gerade eine Schwächephase? Bekommt der Gegner beim Pick'n'Roll Probleme? Unzählige solcher Fragen gehen einem durch den Kopf. Und es ist für einen Point Guard unerlässlich, dass er ein guter Kommunikator ist. Es bringt nichts, sehr viel über Basketball zu wissen, wenn man nicht in der Lage ist, dieses Wissen an die Teamkollegen richtig zu kommunizieren.

SPOX: Sind Point Guards Exoten im Basketball?

Huertas: Auf eine gewisse Weise schon. Die Einstellung ist nicht zu erlernen und nicht zu trainieren: Meiner Meinung nach sollte jeder Point Guard einen Assist höher bewerten als einen eigenen Korb. Der Assist ist das ultimative Ziel und die schönste Befriedigung, weil man weiß, dass man einen Mitspieler glücklich macht.

SPOX: Eine ziemlich radikale Einstellung.

Huertas: Dennoch ist das meine Sicht der Dinge: Jeder Point Guard muss uneitel sein und alle eigennützigen Interessen dem Team unterordnen. Ein Point Guard darf kein Ego besitzen. Ich spiele beim FC Barcelona. Ein großer Verein, der sich die allerhöchsten Ziele setzt und für den nur der Sieg zählt. Es ist deswegen schwierig genug, diesen Ansprüchen gerecht zu werden und jedes Spiel wenn möglich zu gewinnen. Wie soll das klappen, wenn ich als Point Guard außerdem noch an meine eigenen Statistiken denken würde? Nein, es darf nicht von Belang sein, wie viele Punkte, Assists oder Rebounds mir gelingen. Es geht um das große Ganze.

SPOX: Sind Sie wirklich so uneitel?

Huertas: Nach einem Spiel, in dem ich gute Statistiken aufgelegt habe, höre ich immer, wie großartig ich war. Bei allem Respekt ist das für mich jedoch nur Blabla, sinnloses Gerede. In Sportarten wie Tennis sind Zahlen wichtig: Die Aufschlagquote oder die Unforced Errors spiegeln die tatsächliche Leistung wieder. Aber was sagt es im Basketball aus, wenn ich zum Wohle der Mannschaft drei, vier Fouls begehe? Die individuellen Statistiken leiden darunter, dafür helfe ich dem Kollektiv.

SPOX: Im Vorbereitungsspiel gegen die Dallas Mavericks war wieder zu beobachten, wie Sie selbst ein NBA-Team dominieren können, ohne dass sich das groß in den Boxscores zeigt. Wie geht das? Für Sie wurden moderate 12 Punkte und 3 Assists verzeichnet.

Huertas: Es geht darum, den Gegner zu lesen. Dann erkennt man das Ungleichgewicht in deren Spiel und kann es ausnutzen. Vielleicht gebe ich den ersten Pass und erst nach drei, vier weiteren Pässen kommt man zum Korberfolg. Dass mir kein Assist dafür berechnet wird, ist nur zweitrangig. Als Point Guard ist es meine Aufgabe, mir verschiedene Szenarien eines Spielzugs vorher vorzustellen: Gibt es im Low Post ein Mismatch zu unseren Gunsten? Wie bekommen wir den Ball in den Low Post? Oder ist es besser, unseren Dreipunktschützen in Stellung zu bringen, weil er heiß läuft und sein Gegenspieler ein schwacher Verteidiger ist? Wenn man diese Fragen richtig beantwortet, kann man als Point Guard zufrieden sein.

SPOX: In der NBA dominieren allerdings viele Point Guards, die sich vor allem über das Scoren definieren. Derrick Rose und Russell Westbrook sind die bekanntesten Vertreter. Gefällt Ihnen das?

Huertas: Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Point Guard ein Vorbild an Team-Basketball sein soll. Er soll den Mitspielern helfen und nicht selbst ans Scoren denken. Ich bin froh, dass es die NBA offenbar langsam versteht. Dass ein klassischer Point Guard europäischer Prägung wie Pablo Prigioni mit 35 Jahren von den New York Knicks verpflichtet wurde, ist ein gutes Zeichen.

SPOX: Andererseits gibt es Tendenzen, dass angeführt von Fenerbahces Superstar Bo McCalebb der scorende Point Guard im europäischen Basketball immer wichtiger wird.

Huertas: Ich sage nicht, dass ein scorender Point Guard von vornherein schlecht ist. McCalebb ist super athletisch und setzt damit Maßstäbe. Es geht um die richtige Chemie und die Balance innerhalb eines Teams. Manche Teams brauchen einen Scorer auf der Eins, andere Teams brauchen einen echten Anführer. Daher wird es nie so weit kommen, dass der klassische Point Guard, auch wenn er nicht so athletisch ist, aussterben wird.

SPOX: Mit etwas mehr Egoismus und Stats-Fixiertheit hätten Sie vielleicht eine Chance bekommen, in die NBA zu gehen. Keine Reue?

Huertas: Überhaupt nicht, das ist für mich nicht relevant. Vielleicht falle ich jemandem auf, vielleicht nicht. Ich werde mich nicht wegen der NBA umstellen. Das ist es mir nicht wert.

SPOX: Sie hätten sich mit einem besseren Abschneiden der brasilianischen Nationalmannschaft bei den Olympischen Sommerspielen 2012 noch mehr in den Fokus spielen können. Warum verpasste Brasilien erneut eine Medaille, obwohl die Mannschaft gespickt ist mit Top-Spielern wie Ihnen, Anderson Varejao, Nene, Tiago Splitter und Leandro Barbosa?

Huertas: Es wäre unfair, unsere Leistungen nur an einem Spiel festzumachen. Wir haben auf jeden Fall nicht versagt. Seit Ruben Magnano unser Coach ist, machen wir deutliche Fortschritte und ich sehe uns auf Augenhöhe mit den besten Nationen. Bei den Olympischen Spielen hatten wir das Pech, dass wir im Viertelfinale gleich auf Argentinien trafen und wir einen schwachen Tag erwischten. Aber gegen Argentinien kann man ein Spiel auch mal verlieren. Ich weiß, dass wir immer besser werden und jedes Team auf der Welt schlagen können.

SPOX: Es gibt Kritik, dass Brasiliens goldene Generation sich dem Ende nähert, ohne je einen großen internationalen Erfolg gefeiert zu haben. Von Splitter abgesehen sind alle Stars 29 Jahre oder älter.

Huertas: Wir sind noch lange nicht über dem Zenit. Wir haben bei Olympia wertvolle Erfahrung gesammelt und sind ein Jahr weiter in unserer Entwicklung. 2014 steht erst die WM in Spanien an, unser Fernziel sind jedoch die Olympischen Spiele 2016 im eigenen Land in Rio. Das Beste liegt noch vor uns.

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